Integrative Förderung und fehlender Rechtschreibunterricht benachteiligen Legastheniker, Bild: Keystone
"Der Rechtschreibunterricht findet vielerorts nicht mehr statt", Landbote, 29.6. von Thomas Münzel
Albert
Einstein, Leonardo da Vinci, Ernest Hemingway, Winston Churchill und John
Lennon hatten eines gemeinsam: Sie waren alle Legastheniker. Ihre Lese- und
Rechtschreibschwäche hinderte sie jedoch nicht daran, ein erfolgreiches Leben
zu führen. Denn laut Fachleuten gelten die entsprechenden Schwächen lediglich
als Entwicklungsstörungen und sind demzufolge nicht auf eine verminderte
Intelligenz zurückzuführen. Was aber nicht heisst, dass die Lernschwäche nicht dennoch
viele Kinder und spätere Erwachsene vor unzählige, schier unüberwindbare Hürden
stellen kann.
7 Prozent sind Legastheniker
Auch in den Zürcher Schulen ist das
Thema «Legasthenie» ein bekanntes Problem. Lilo Lätzsch, Präsidentin des
Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands, geht davon aus, dass rund sieben
Prozent der Schülerinnen und Schüler unter einer Lese- und Rechtschreibschwäche
leiden. Und offenbar nimmt die Zahl der Betroffenen alles andere als ab.
«Unsere Vermutung ist, dass die Störung massiv zunehmen wird, da sie so komplex
und multifaktoriell bedingt ist und Schule, Elternhaus und Gesellschaft
zusammen eine wesentliche Rolle spielen», sagt Monika Brunsting,
Fachpsychologin, Sonderpädagogin und Vorstandsmitglied des Verbandes Dyslexie
Schweiz (VDS). Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, die Situation von
Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie (Rechenschwäche) in der Schweiz zu
verbessern.
Für Zürcher Schüler mit einer
Lernschwäche hat sich die Situation vor allem seit der Einführung der
sogenannten «schulischen Integration» verschlechtert, sagt Brunsting. Aufgrund
dieses Konzeptes sollen möglichst alle Kinder – auch jene mit besonderem
pädagogischem Förderbedarf – gemeinsam geschult werden. Wegen der Mehrbelastung
stehen den Lehrern lektionsweise Heilpädagogen zur Seite.
Aber offenbar viel zu wenige. Nach
Ansicht von Brunsting haben die Heilpädagoginnen und Heilpädagogen im Kanton
Zürich kaum zeitliche Ressourcen zur spezifischen Förderung von Schülern mit
Legasthenie und Dyskalkulie. «Oder ganz einfach ausgedrückt: Zu wenig
Heilpädagoginnen haben zu wenig Stunden.» Dabei sei es ausserordentlich
wichtig, eine Legasthenie so früh wie möglich zu erkennen «und die betroffenen
Kinder gezielt zu fördern», sagt Brunsting. Doch im Kanton Zürich gebe es
derzeit leider grundsätzlich zu wenig personelle und finanzielle Ressourcen.
Das bestätigen hinter vorgehaltener
Hand auch so manche Lehrerinnen und Lehrer. Der Mangel an Heilpädagogen sei ein
«Riesenproblem» für den integrativen Unterricht, heisst es.
Kaum Rechtschreibunterricht
Verschärft werde die Situation der
Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche laut Brunsting noch durch einen
anderen Umstand. «Wir stellen fest, dass der Rechtschreibunterricht im Kanton
Zürich vielerorts nicht mehr stattfindet. Das ist nun von allen schlechten
Lösungen die wohl schlechteste.» Auch die Präsidentin des Zürcher Lehrerinnen- und
Lehrerverbands räumt ein, dass es einen Wandel gegeben hat: «Die
Rechtschreibung hat nicht mehr den gleichen Stellenwert wie früher», sagt Lilo
Lätzsch. Dazu tragen ihrer Ansicht nach auch Textprogramme bei, die ein
Korrekturprogramm beinhalten.
Wendelspiess widerspricht
Doch Martin Wendelspiess, Chef des
Zürcher Volksschulamts, gibt Gegensteuer: «Die Lernziele des Lehrplans gelten
grundsätzlich für alle Kinder.» Diese seien seit 30 Jahren unverändert. «Die
Äusserung, wonach der Rechtschreibunterricht vielerorts nicht mehr stattfindet,
ist unzutreffend.» Es sei vielmehr so, dass die Bewertung der Verständlichkeit
eines Inhalts und die sprachliche Form heute bedeutender seien und gegenüber
der Rechtschreibung eine andere Gewichtung eingenommen haben. Zudem: Generell
von knappen personellen und finanziellen Ressourcen für die spezifischen
Bedürfnisse der Legastheniker in den Schulklassen zu sprechen, «ist nach
unserer Meinung falsch», sagt Wendelspiess. Die Betroffenen würden je nach
Schweregrad der Lernstörung mit integrativen sonderpädagogischen Massnahmen
oder in der logopädischen Therapie unterstützt, bei schweren Fällen in
spezialisierten Sprachheilschulen.
Mehr Ausbildungsplätze
Die sonderschulischen Angebote, vor
allem die integrierten, nehmen laut Wendelspiess zu: von 1999 bis 2014 um fast
120 Prozent. Dementsprechend seien die Gesamtkosten im Sonderschulbereich
kontinuierlich angestiegen.
«In Bezug auf die angeblich wenig zur
Verfügung stehenden Heilpädagoginnen und Heilpädagogen möchten wir betonen,
dass der Kanton die Anzahl der Ausbildungsplätze massiv ausgeweitet hat.»
Standen früher pro Jahr 25?Plätze an der Hochschule für Heilpädagogik zur
Verfügung, so sind es gegenwärtig über 120 Plätze . «Konkret sind derzeit gut
350 Lehrerinnen und Lehrer in der Ausbildung», sagt Wendelspiess. Die zeitliche
Verfügbarkeit der Heilpädagoginnen und Heilpädagogen habe sich zudem
verbessert. Wie die Prioritäten für die einzelnen Angebote gesetzt werden, sei
jedoch allein Sache der jeweiligen Schulgemeinde.
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