7. Juli 2015

Legastheniker kommen unter die Räder

An den Zürcher Schulen kommen derzeit vor allem Schüler mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche unter die Räder, sagen Fachleute. Es fehle an Ressourcen und richtig gesetzten Prioritäten. Ausserdem werde der Rechtschreibeunterricht vernachlässigt.




Integrative Förderung und fehlender Rechtschreibunterricht benachteiligen Legastheniker, Bild: Keystone

"Der Rechtschreibunterricht findet vielerorts nicht mehr statt", Landbote, 29.6. von Thomas Münzel



Albert Einstein, Leonardo da Vinci, Ernest Hemingway, Winston Churchill und John Lennon hatten eines gemeinsam: Sie waren alle Legastheniker. Ihre Lese- und Rechtschreibschwäche hinderte sie jedoch nicht daran, ein erfolgreiches Leben zu führen. Denn laut Fachleuten gelten die entsprechenden Schwächen lediglich als Entwicklungsstörungen und sind demzufolge nicht auf eine verminderte Intelligenz zurückzuführen. Was aber nicht heisst, dass die Lernschwäche nicht ­dennoch viele Kinder und spätere Erwachsene vor unzählige, schier unüberwindbare Hürden stellen kann.
7 Prozent sind Legastheniker
Auch in den Zürcher Schulen ist das Thema «Legasthenie» ein bekanntes Problem. Lilo Lätzsch, Präsidentin des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands, geht davon aus, dass rund sieben Prozent der Schülerinnen und Schüler unter einer Lese- und Rechtschreibschwäche leiden. Und offenbar nimmt die Zahl der Betroffenen alles andere als ab. «Unsere Vermutung ist, dass die Störung massiv zunehmen wird, da sie so komplex und multifaktoriell bedingt ist und Schule, Elternhaus und Gesellschaft zusammen eine wesentliche Rolle spielen», sagt Monika Brunsting, Fachpsychologin, Sonderpädagogin und Vorstandsmitglied des Verbandes Dyslexie Schweiz (VDS). Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, die Si­tua­tion von Menschen mit Legasthenie und Dyskalkulie (Rechenschwäche) in der Schweiz zu verbessern.
Für Zürcher Schüler mit einer Lernschwäche hat sich die Si­tua­tion vor allem seit der Einführung der sogenannten «schulischen Integration» verschlechtert, sagt Brunsting. Aufgrund dieses Konzeptes sollen möglichst alle Kinder – auch jene mit besonderem pädagogischem Förderbedarf – gemeinsam geschult werden. Wegen der Mehrbelastung stehen den Lehrern lektionsweise Heilpädagogen zur Seite.
Aber offenbar viel zu wenige. Nach Ansicht von Brunsting haben die Heilpädagoginnen und Heilpädagogen im Kanton Zürich kaum zeitliche Ressourcen zur spezifischen Förderung von Schülern mit Legasthenie und Dyskalkulie. «Oder ganz einfach ausgedrückt: Zu wenig Heilpädagoginnen haben zu wenig Stunden.» Dabei sei es ausserordentlich wichtig, eine Legasthenie so früh wie möglich zu erkennen «und die betroffenen Kinder gezielt zu fördern», sagt Brunsting. Doch im Kanton Zürich gebe es derzeit leider grundsätzlich zu wenig personelle und finanzielle Ressourcen.
Das bestätigen hinter vorgehaltener Hand auch so manche Lehrerinnen und Lehrer. Der Mangel an Heilpädagogen sei ein «Riesenproblem» für den integrativen Unterricht, heisst es.
Kaum Rechtschreibunterricht
Verschärft werde die Si­tua­tion der Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche laut Brunsting noch durch einen anderen Umstand. «Wir stellen fest, dass der Rechtschreibunterricht im Kanton Zürich vielerorts nicht mehr stattfindet. Das ist nun von allen schlechten Lösungen die wohl schlechteste.» Auch die Präsidentin des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands räumt ein, dass es einen Wandel gegeben hat: «Die Rechtschreibung hat nicht mehr den gleichen Stellenwert wie früher», sagt Lilo Lätzsch. Dazu tragen ihrer Ansicht nach auch Textprogramme bei, die ein Korrekturprogramm beinhalten.
Wendelspiess widerspricht
Doch Martin Wendelspiess, Chef des Zürcher Volksschulamts, gibt Gegensteuer: «Die Lernziele des Lehrplans gelten grundsätzlich für alle Kinder.» Diese seien seit 30 Jahren unverändert. «Die Äusserung, wonach der Rechtschreibunterricht vielerorts nicht mehr stattfindet, ist unzutreffend.» Es sei vielmehr so, dass die Bewertung der Verständlichkeit eines Inhalts und die sprachliche Form heute bedeutender seien und ­ge­gen­über der Rechtschreibung eine andere Gewichtung eingenommen haben. Zudem: Generell von knappen personellen und finanziellen Ressourcen für die spezifischen Bedürfnisse der Legastheniker in den Schulklassen zu sprechen, «ist nach unserer Meinung falsch», sagt Wendelspiess. Die Betroffenen würden je nach Schweregrad der Lernstörung mit integrativen sonderpädagogischen Massnahmen oder in der logopädischen Therapie unterstützt, bei schweren Fällen in spezialisierten Sprachheilschulen.
Mehr Ausbildungsplätze
Die sonderschulischen Angebote, vor allem die integrierten, nehmen laut Wendelspiess zu: von 1999 bis 2014 um fast 120 Prozent. Dementsprechend seien die Gesamtkosten im Sonderschulbereich kontinuierlich angestiegen.
«In Bezug auf die angeblich ­wenig zur Verfügung stehenden Heilpädagoginnen und Heilpädagogen möchten wir betonen, dass der Kanton die Anzahl der Ausbildungsplätze massiv ausgeweitet hat.» Standen früher pro Jahr 25?Plätze an der Hochschule für Heilpädagogik zur Verfügung, so sind es gegenwärtig über 120 Plätze . «Konkret sind derzeit gut 350 Lehrerinnen und Lehrer in der Ausbildung», sagt Wendelspiess. Die zeitliche Verfügbarkeit der Heilpädagoginnen und Heilpädagogen habe sich zudem verbessert. Wie die Prioritäten für die einzelnen Angebote gesetzt werden, sei jedoch allein Sache der ­jeweiligen Schulgemeinde.


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