Erfüllung des kantonalen Bildungsauftrags oder Gefahr weiteren
Bildungsabbaus?
Elsbeth Schaffner, Bürgerin und Steuerzahlerin im Kanton
Thurgau, von Beruf Primarlehrerin, 8.4.2015
Im Folgenden stelle ich zur Diskussion, ob der
Lehrplan 21 ermöglicht, dass alle Kinder gut Deutsch sprechen, lesen und
schreiben lernen. Fördert das neue Schulkonzept eine reichhaltige und
formal korrekte Sprache? Wird im
Deutschunterricht die Vermittlung geeigneter Inhalte genügend berücksichtigt? Wenn
nicht, stellt sich aus pädagogischer Sicht die Frage, ob nicht der Lehrplan 21
den bereits heute beklagten Bildungsabbau im Fach Deutsch (ungewollt) vorantreibt.
Mit der sprachlichen Bildung ist immer
eine Schulung des Gemüts und des Denkens durch inhaltlich und sprachlich
gehaltvolle Texte verbunden. Guter Deutschunterricht trägt zur positiven
Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit bei. Die Lehrerinnen und Lehrer sind
die sprachlichen Vorbilder!
Die Lehrerinnen und Lehrer wecken bei
ihren Schülern durch das Lesen geeigneter Geschichten und Gedichte die Liebe
zur Literatur. Im Deutschunterricht werden die wichtigen kulturellen und
geistigen Grundlagen und Werte weitergegeben.
Rechtschreibung und Grammatik sind wichtig
und erfordern eine systematische Schulung. Dies gilt auch für das Erlernen,
Üben und Festigen der (verbundenen!) Schreibschrift.
Laut Hattie-Studie ist die Anleitung
massgebend für den Lernerfolg. Der Aufbau des korrekten sprachlichen Ausdrucks gelingt
am besten im mündlichen Klassenunterricht und durch gezielte Aufsatzschulung.
Schülerarbeiten werden vom Lehrer korrigiert und von den Schülern verbessert.
Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 zerstückelt die Inhalte im
Fach Deutsch
Das bisherige Schulfach Deutsch wird in sechs
Kompetenzbereiche aufgeteilt:
Hören, Lesen, Sprechen, Schreiben, Sprache im Fokus und
Literatur im Fokus.
Der Lehrplan schreibt den Ablauf
des sogenannten Kompetenzerwerbs detailliert vor:
Jeder der oben erwähnten Kompetenzbereiche
wird in die von den Experten ausgewählten Kompetenzen (ABCDEFG) aufgeteilt, die
die Schüler im Laufe der 11 obligatorischen Schuljahre (inkl. Kindergarten)
erwerben sollen. Unter jeder einzelnen Kompetenz sind wiederum die Kompetenzstufen
aufgelistet (abcdefghi), die festlegen, was das Kind zu einem gewissen Zeit-punkt
können soll. Konsequent der konstruktivistischen Theorie folgend wird das Fach
Deutsch durch diesen Kompetenzraster in rund zweihundert Einzelteile
(Schülerinnen und Schüler können...) zerlegt.
è Dazu die Stellungnahme der CVP aus
der Konsultationsantwort des RR Thurgau:
"Die CVP meint zur
Kompetenzorientierung : Der Lehrplan formuliert sämtliche
Lehrziele im Muster des Könnens, nicht des
Wissens, Verstehens, Interesses am
Gegenstand. Der stets gleiche Ansatz kann
sich doch nicht für alle Themen eignen."
Es ist tatsächlich zu befürchten,
dass durch die Kompetenzstruktur des Lehrplans 21 der Zusammenhang des
Sprachunterrichts komplett verloren geht. Das wäre verheerend: Sprache ist die
Grundlage des Denkens und sie muss in einem ganzheitlichen Zusammenhang
erworben werden. In einer gut geführten Klassengemeinschaft im systematisch und
schrittweise aufgebauten Unterricht können alle Kinder gut Deutsch lernen.
Dafür braucht es einen klaren Bildungsauftrag, gut ausgebildete Lehrerinnen und
Lehrer und geeignete Lehrmittel.
Erfahrungen aus der Schulpraxis zur Grundlagenbildung im Fach
Deutsch:
Mit
Kindern erfolgt sprachliche Bildung immer im Zusammenhang mit einem altersgerechten
Thema (z.B. ein Tier, eine Geschichte...). Im Klassengespräch werden Gedanken und
Beobachtungen zusammengetragen und in eine sprachliche Form gebracht. Für die
Förderung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit braucht es einen durchdachten Aufbau
und viel Übung. Dies geschieht mündlich und schriftlich. Zuhören ist dabei kein
Kompetenzziel, sondern Voraussetzung. Pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte richten
die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich, auf einen Gegenstand (ein Phänomen,
eine Gegebenheit, ...) und auf die andern Kinder. So können alle im gemeinsamen
Unterricht unter Anleitung des Lehrers lernen, ihre Überlegungen sprachlich immer
besser auszudrücken. Sie denken mit, finden gemeinsam die passenden Wörter und
üben Sätze zu formulieren. Nicht isolierte, abstrakte grammatikalische Übungen
zu Nomen, Verb und Adjektiv stehen im Zentrum des Unterrichts, sondern ein
ständig wachsender lebendiger Wortschatz, um auszudrücken, wie die Dinge
heissen, wie etwas aussieht oder sich anfühlt und was geschieht bzw. was jemand
tut. Dazu braucht es eine sichere, wohlwollende Lehrerpersönlichkeit, die
begeistert ist vom Lernstoff, an den sie die Kinder heranführen will.
Die Lehrerpersönlichkeit ist massgeblich für den Erfolg
im Deutschunterricht! Sie motiviert und ermutigt die Kinder, genau zuzuhören
und korrekt sprechen und schreiben zu lernen.
Mit
den modernen Unterrichtsmethoden werden die Schüler oft beim Lernen sich selbst
überlassen. Sie werden mit offenen Aufgabenstellungen konfrontiert, sollen
„selbstgesteuert“ Themen erkunden und eigene Lösungen entwickeln. In Gruppen
sollen sie miteinander darüber debattieren, ihre eigenen Vorlieben reflektieren
und abschliessend ihre Resultate präsentieren. Leider gibt es trotz viel
Beschäftigung und Ausfüllen von unzähligen Arbeitsblättern meist zu wenig
vertiefte Lerneffekte! Ohne die systematische Vermittlung des Stoffes im
gemeinsamen Unterricht werden die meisten Kinder und Jugendlichen weder
gefördert noch gefordert. Sie wären auf den vom Lehrer geleiteten ganzheitlichen
Deutschunterricht im Rahmen der Klassengemeinschaft angewiesen. Nur dann können
sie die notwendige Konzentration aufbauen, damit sie ihre Gedanken ordnen, inhaltliche
Zusammenhänge herstellen und sich im sprachlichen Ausdruck üben können.
Die Aufteilung der Sprache in zahlreiche Teilaspekte,
wie sie der Lehrplan 21 vornimmt, wirkt künstlich. Wird so ein
zusammenhängender Lernprozess nicht eher verhindert?
Kann der sogenannte Kompetenzaufbau
im Lehrplan 21 das Ziel einer vertieften sprachlichen Bildung erreichen oder
behindert er sie nicht eher? Führt nicht die detailliert festgeschriebene
Aufzählung unweigerlich zum Ausschluss der nicht aufgeführten Kompetenzen? Besteht
nicht die Gefahr, dass nur noch gelernt wird, was getestet werden kann? Die
Kompetenzstufen, die je nach Unterrichtsarrangement weitgehend selbsttätig mit
didaktischen Materialien bearbeitet wurden, werden zukünftig vermutlich mit
standardisierten Tests als erfüllt abgehakt. Eine Einführung in unsere
reichhaltige Sprachkultur wird auf diese Weise jedoch kaum mehr möglich sein.
Das mechanistische Kompetenzraster-Lernen droht im Gegenteil zu noch mehr
Oberflächlichkeit und Verarmung der Sprache zu führen. Der Lehrplan wird nach
seiner Einführung entweder zur Makulatur werden oder er schreibt den
Lehrkräften die eingekauften Unterrichtsmaterialien der Lehrmittelkonzerne vor.
O-Ton Lehrplan 21 Kompetenzbereich Hören:
4-8-jährige Schulkinder ...
“können
Gesprächen folgen und dabei ihre Aufmerksamkeit nonverbal (z.B. Mimik,
Körpersprache), paraverbal (z.B. Intonation) und verbal (Worte) zeigen“ (D.1, C
b)
9-12-jährige Schülerinnen und Schüler...
„können in anforderungsreichen Situationen
(z.B. Zeitdruck, Nebengeräusche)
Emotionen der sprechenden Person einschätzen.“(D.1, A f)
13-15-jährige Schülerinnen und Schüler...
„können in Diskussionen und Debatten das
Gesprächsverhalten und die darin liegende Strategie der anderen einschätzen, um
mit eigenen Beiträgen angemessen reagieren zu können“ (D.1, C g)
„können nonverbale und paraverbale
Signale im Gespräch bewusst einsetzen, um die eigene Absicht durchzusetzen“
(D.1, C h).
è Stellungnahme des Amtes für Mittel-
und Hochschulen (AMH) des Kantons Thurgau:
„Für das AMH liegt der Fokus zu sehr auf
den kommunikativen Kompetenzen. Die
Grammatik und die syntaktischen Strukturen,
das nötige Handwerk, welches die
Schülerinnen und Schüler benötigen, um
sich in authentischen kommunikativen
Situationen zu behaupten, werden
stiefmütterlich behandelt und somit nicht
ausreichend hervorgehoben, v.a. im Vergleich
zu den kommunikativen, kulturellen und ästhetischen Kompetenzen, welche ein
grosses Gewicht haben.“ (Konsultationsantwort RR):
O-Ton Lehrplan 21 Kompetenzbereich Sprache im Fokus:
13-15jährige Schülerinnen und Schüler ...
können den Gebrauch von sprachlichen Mitteln
untersuchen (z.B. Chat eher mündlich, Präsentation eher schriftlich,
Bewerbungsschreiben und -gespräch sehr formell, kulturelle Prägung). (D.5, B d)
können verschiedene Schreibweisen
untersuchen (z.B. SMS-Schreibweise: shön vs. schön, lg, 4u) und Vor- und
Nachteile beschreiben. (D.5, C e)
können die Bedeutung von Rechtschreibregeln
reflektieren. (D.5, C e)
è Stellungnahme der FDP des Kantons
Thurgau (aus der Konsultationsantwort des RR):
"Die Kompetenzen im schriftlichen
Bereich nehmen laut Einschätzung der FDP laufend ab. Auch hier ist eine
Fokussierung angezeigt und die Liste der Kompetenzen zu reduzieren. Die Partei
verweist auf die nicht immer genügende schriftliche Sprachkompetenz der
Lehrpersonen; die Lehrerausbildung muss in diesem Bereich verbessert
werden."
Kann der Lehrplan 21 seine eigenen
Versprechungen erfüllen? In der Einleitung heisst es dort:
„Im Deutschunterricht lernen die
Schülerinnen und Schüler, Mundart und Standardsprache situationsangepasst,
sorgfältig und sprachlich korrekt anzuwenden“
è Stellungnahmen des Thurgauer
Gewebeverbandes (TGV):
"Der TGV stellt bei den Jugendlichen
seit Jahren eine Verschlechterung
der Deutschkenntnisse in Wort und Schrift
fest. Da der Lehrplan 21 auf den
bestehenden Lehrplänen aufbaut, beurteilt er
die Mindestansprüche als viel zu tief. In
vielen Berufen mit Kundenkontakt, zu denen
auch Berufe mit sehr tiefem
Einstiegsanforderungen gehören, wird eine
akzentfreie Ausdrucksweise erwartet. Die
Mitarbeiter einschliesslich Lernende sind
beim Kundenkontakt die Visitenkarte der
Unternehmen bzw. des Lehrbetriebs. Die
Mundart- und Standardsprache darf folglich
nicht erstsprachlich gefärbt sein (siehe D.3
A e). Bei den Schreibprodukten ist die
Kompetenz der (weitgehend) fehlerfreien
Grammatik eine zwingende
Mindestanforderung.“ (Konsultationsantwort des RR)
O-Ton Lehrplan 21 Kompetenzbereich Lesen:
4-8jährige Schulkinder...
„können
sich mithilfe konkreter Fragen darüber austauschen, welche Leseinteressen sie
haben und können so ihre Lektürewahl in der Bibliothek, in der Leseecke
reflektieren.“ (D.2, D b).
9-12jährige Schulkinder...
können ein Buch auswählen, indem sie in verschiedenen
Büchern schnuppern (z.B.
durchblättern,
Anfang oder Schluss lesen). (D.2,C f)
13-15jährige Schülerinnen und
Schüler...
„können sich darüber austauschen,
welche Leseinteressen sie haben, und können ihre Lektürewahl begründen.“ (D.2,
D e)
Die Erfahrung zeigt, dass die
jungen Leserinnen und Leser sich in der Regel nur daran orientieren können, was
ihnen von den Erwachsenen angeboten und empfohlen wird. Da der Lehrplan 21
keine Kriterien angibt für Literatur, die sich für eine umfassende Bildung der
Jugend eignen würde, wird diese Auswahl den Lehrmittelkonzernen[1]
überlassen. Sollten wir hier wir nicht genauer hinschauen? Da Lesen eine der grundlegendsten
Kulturtechniken ist, muss bei der Auswahl auf die Inhalte geachtet werden. Gute
Texte sind schön, ergreifend, berührend, spannend, erheiternd oder ganz einfach
interessant. Sie müssen die Kinder positiv ansprechen und gleichzeitig wichtige
kulturelle Grundlagen weitergeben. Sprachlich reichhaltige und gehaltvolle
Geschichten und Gedichte bilden das Gemüt der Kinder und Jugendlichen und erschliessen
ihnen einen eigenen Zugang zur Welt. Beim Lesen entstehen innere Bilder. Lesen
ist kein isolierter Vorgang, der mechanistisch trainiert wird, und dient auch
nicht nur dazu, Sachtexte und Gebrauchsanweisungen zu verstehen. Lesenlernen
muss durch lesen geschehen. Lesenlernen ist Arbeit, Entdecken und
Herausforderung und lässt innerlich die Kinder wachsen. Vor allem durch das
gemeinsame Lesen einer Klassenlektüre werden Personen und Geschehnisse aus
einer Geschichte lebendig.
Abschliessend möchte ich folgende Fragen zur Diskussion
stellen:
Wird der Lehrplan 21 dem ganzheitlichen Bildungsauftrag
an das Fach Deutsch gerecht?
Bereitet er die Jugend genügend auf die Anforderungen
der Berufsausbildung vor?
Ermöglicht er die Vermittlung der kulturellen Werte und die
Persönlichkeitsbildung der Schülerinnen und Schülern gemäss Paragraph 2 des
Thurgauer Volksschulgesetzes?
Gesetz über die Volksschule vom August 2007:
§ 2 Die Volksschule fördert
die geistigen, seelischen und körperlichen Fähigkeiten der Kinder. In Ergänzung
zum Erziehungsauftrag der Eltern erzieht sie die Kinder nach christlichen
Grundsätzen und demokratischen Werten zu selbständigen, lebenstüchtigen
Persönlichkeiten und zu Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitmenschen und
der Umwelt.
[1] Bereits in den heute verwendeten
Erstleseheften des Leselehrganges „Leseschlau“ kommt ein erschreckender Mangel
an wertorientierten Inhalten zum Ausdruck:
„Du nervst!“ heisst der Titel eines
von mehreren Leseheften zu diesem Lehrgang für Erstklässler.
Es geht darin um einen Jungen, der
alle seine Kameraden blöd findet. Weil er jemanden sucht, der genau so ist wie
er, klont er sich selbst (im Traum). Schon nach kurzer Zeit findet der Junge
seinen Klon genauso blöd wie alle andern Kinder. Die Geschichte endet damit,
dass er aus seinem Traum erwacht und sich darauf freut, seine Schulkameraden
wieder zu sehen. Die Geschichte vermittelt keinerlei positive Möglichkeiten,
Beziehungen freundschaftlich zu gestalten. Es ist deshalb schon vorauszusehen,
dass es nicht lange dauern wird, bis der Junge seine Kameraden wieder blöd
findet. Im Vergleich zu vielen modernen Lesetexten für Kinder und Jugendliche
fallen die früheren Hefte des Schweizerischen Jugendschriftenwerkes (SJW) durch
ihre sorgfältige Auswahl und den gehaltvollen Inhalt besonders positiv auf.
„Das Eselein Bim“ z.B., ein Leseheft für 9- bis 11-Jährige, schlug eine Brücke
zwischen Arm und Reich und füllte Begriffe wie Solidarität, Einsamkeit, Gier,
Freundschaft und Abenteuer mit Inhalt. Solche Geschichten könnten den jungen
Leserinnen und Lesern das Herz öffnen für die sozialen Zusammenhänge der
heutigen Welt.
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