3. März 2015

Wankelmütiger bildungspolitischer Zeitgeist

Der Staatssekretär für Bildung, Forschung und Innovation, Mauro Dell'Ambogio, zeigt sich skeptisch gegenüber Interventionen des Bundes in unser Bildungssystem. Hinter jeder nationalen Strategie stehe unvermeidlich eine planwirtschaftliche Versuchung.





Bildungsverfassung 2006 als Produkt des Zeitgeistes, Bild: ETH Zürich

Und sie bewegt sich doch, die Schweizer Bildungspolitik, NZZ, 3.3. von Mauro Dell'Ambrogio



Hier und dort wird behauptet, der Schweiz mangle es an einer Bildungsstrategie. Diese Behauptung ist indessen nur selten von Vorschlägen begleitet, wie denn eine solche aussehen könnte. Wenn aber doch, dann sind die Vorschläge extrem einseitig oder in Verkennung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten oder zuweilen naiv und kaum zu einem breiten Konsens fähig. Etwa im Sinne von: Es braucht mehr (oder weniger) Akademiker, oder es braucht mehr (oder weniger) Orientierung an den (aktuellen) Bedürfnissen des Arbeitsmarktes.

National gesteuerte Bildungspolitik
Wir kommen nicht um die Feststellung herum, dass Bildungspolitik mindestens so komplex ist wie Wirtschaftspolitik. Dementsprechend lässt sie sich auch nicht auf «Strategien» reduzieren, zum Beispiel, ob nun dem Finanzsektor oder dem Tourismus Priorität zuzuweisen sei. Denn es ist zu bedenken, dass es um Investitionen geht, die, wenn überhaupt, erst nach Jahrzehnten ihre Früchte tragen. Und zu bedenken ist auch, wie wohlgemeint die Absicht ist, eine Allgemeingültigkeit zu diktieren, so zu tun, als ob man jeder und jedem den persönlichen Weg festschreiben könne. Und so, als ob es darum ginge, den Einzelnen - den Lernenden in der Ausbildung wie den Unternehmer in der Wirtschaft - von jedem Risiko und jeder Eigenverantwortung fernzuhalten.
Die heute international anerkannte Stärke des Schweizer Bildungssystems ist auch eine Folge davon, dass die Schweiz nie eine national gesteuerte Bildungspolitik gehabt hat. Das hat uns nicht nur erlaubt, eine Vielfältigkeit zu bewahren und das Potenzial, innovativ zu bleiben, sondern wir haben so auch unwiderrufliche Fehler vermeiden können. Solche haben verschiedene andere Länder in früheren Jahrzehnten, vom Zeitgeist verlockt, begangen, etwa indem sie die Berufslehre mit dem irrtümlichen Ziel «Chancengleichheit» zugunsten des Universitätszuganges für alle geopfert haben. Wie wankelmütig der bildungspolitische Zeitgeist ist, zeigen auch die Entwicklung des in der Bildungsverfassung 2006 zentral festgelegten Harmonisierungsgebots und die heutzutage mehr von Skepsis als von Begeisterung geprägte Diskussion um Volksschullehrpläne.
Hinter jeder nationalen Strategie steht unvermeidlich eine planwirtschaftliche Versuchung: In der Wirtschaftspolitik mutet man besser den Akteuren auf dem Feld ihre eigenen Strategien zu, und der Staat beschränkt sich hier auf ordnungspolitische Grundsätze oder handelt föderalistisch. In diesem Sinne steht Bildungspolitik in der Schweiz näher bei der Strategie eines Investors als bei derjenigen einer Unternehmensführung.
Einheitlichkeit in der Strategie ist nicht einmal für die wenigen Bildungseinrichtungen zweckmässig, die in der alleinigen Zuständigkeit des Bundes stehen. Beispielsweise pflegen die EPF Lausanne und die ETH Zürich ganz unterschiedliche Haltungen bezüglich des universitären Fernstudiums - extrem proaktiv die erste, sehr skeptisch die zweite. Aus nationaler Sicht eine optimale Lage: Wer recht hat, das wird die Zeit erweisen. Bei einheitlichem Denken würden die kritische Distanz in der Beurteilung und die Möglichkeit der Korrektur verloren gehen, in der Politik noch mehr als in der Wirtschaft; genau wie es anderswo beim Abbau der Berufslehre geschehen ist.
Trotzdem ist in den letzten zwei Jahrzehnten so vieles - und das koordiniert - im Schweizer Bildungssystem passiert, dass kein unbefangener Beobachter von Strategiemangel sprechen würde. Die Berufsbildung ist vollumfänglich in das Bildungssystem integriert und mit neuen Angeboten aufgewertet worden; Fachhochschulen und Berufsmaturität haben die Gleichwertigkeit der Bildungswege und die Durchlässigkeit zwischen ihnen ermöglicht; im Bologna-Prozess haben unsere Hochschulen den internationalen Anschluss nicht verpasst; Gymnasial- und Fachmaturität wurden neu gestaltet; die vereinfachte politische Governance des Hochschulraumes und die bessere Finanzierung der höheren Berufsbildung stehen vor der Bewährungsprobe oder vor der parlamentarischen Zustimmung; Kantone und Bund respektieren ihre jeweiligen Zuständigkeiten, aber geben sich gestützt auf ein gemeinsames Bildungsmonitoring und den entsprechenden -bericht gemeinsame bildungspolitischen Ziele.
Eine ganz andere Sache sind die pädagogisch, manchmal auch finanz- oder arbeitsmarktpolitisch begründeten, wiederkehrend lokal geführten Reformen. Getrennt lernen nach Begabung oder Integration? Früher oder späterer Zugang zu einem Fach? Teilpensen zulassen oder nicht? Mehr Lehrpersonen anstellen oder sie besser bezahlen? Bei diesen und ähnlichen Herausforderungen divergieren die Meinungen am stärksten. Für die einen sind sie ein schädlicher, bürokratisch geführter Reformdrang. Die andern sehen die Notwendigkeit einer übergeordneten Strategie, in der Hoffnung, auf der höheren Ebenen mehr beeinflussen zu können.

Kein übergeordneter Zwang

Gerade in diesen nicht systemischen, aber materiell noch wichtigeren Fragen kann eine flächendeckende Strategie mehr schaden als nützen. Langfristige Versuche und Evaluationen sind um diese Fragen nötig, und unterschiedliche Rahmenbedingungen können dazu führen, dass eine gute Lösung nicht überall anwendbar und also nicht allgemeingültig ist. Konsolidierte Good Practices setzen sich jedenfalls auch ohne übergeordneten Zwang durch. Interesse an einem guten Bildungsangebot hat jedermann, und auf lokaler Ebene fallen Korrekturen und Abstimmungen mit den verfügbaren Ressourcen bestimmt einfacher. Wer also sich eine nationale Bildungsstrategie wünscht, so als gäbe es diese nicht bereits, ignoriert die Fakten. Und wer damit mehr Interventionen vom Bund meint, verkennt ein Schweizer Erfolgsrezept.

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