11. Februar 2015

Merseburger Zaubersprüche

«Phôl ende Wuodan fuorun zi holza. dû wart demo balderes folon sîn fuoz birenkit…, rezitierte unser Deutschlehrer den 2. Merseburger Zauberspruch. Verantwortlich für dieses zentrale Fach zeichnete Dr. Josef Niedermann alias «Rilke». Er hiess uns die belustigenden Zeilen nachzusprechen und diese dann zu übersetzen.
Mit althochdeutscher Pferdeheilkunde aus dem 8. Jahrhundert begann «Rilke» uns 16-Jährigen der deutschen Sprache näherzubringen – oder umgekehrt.
Drei Jahre später, bei Bertolt Brecht, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, animierte der schmächtige, kulturbegeisterte Mann, dessen rechtes Hosenbein stets zwei Zentimeter höher stand, unsere flausenhaften Hirni zu wundersamen Höhenflügen. Der Mann war Meister seines Fachs. Er hatte Charisma, verstand es Debatten anzuregen und sich als Anker und Orientierungshilfe zu positionieren. Sein unerschöpflicher Wissensfundus, seine fast unheimliche Dossierfestigkeit, aber auch die ansteckende Begeisterung für sein Metier blieben mir in eindrücklicher Erinnerung. Er war von A bis Z authentisch, ein effektiver Kompetenzengenerator. So geschehen im Lehrerseminar Rickenbach (Schwyz) vor gut 50 Jahren.
Merseburger Zaubersprüche, Blog Südostschweiz, 11.2. von Fritz Tschudi

Diese kurze Charakterisierung lässt schon erahnen, dass «Rilkes» Unterricht heutigen Expertenmeinungen nicht standhalten könnte. Tatsächlich: Nach gültiger Unterrichtsdoktrin schien er fast alles falsch zu machen:
  • Er war ein «Selbstdarsteller» aus didaktischer Überzeugung.
  • Sein Unterricht war fast ausschliesslich lehrerzentriert.
  • Frontalunterricht war allgegenwärtig.
  • «Rilke» unterrichtete selbstbestimmt. Er verlangte die Erreichung der von ihm «eigenmächtig» gesetzten Stoffziele.
  • Er erzählte und debattierte lebhaft und anregend, manchmal über längere Zeit.
  • Er agierte weder als Coach noch als Kumpel, sondern als verlässlicher Experte mit Tiefgang. Im Zentrum des Unterrichts stand stets der Lerngegenstand, dem seine Begeisterung galt.
  • Er liess selten in Gruppen arbeiten.
  • «Lernen» befand er als eine selbstverantwortlich wahrzunehmende Angelegenheit in der Gewissheit, dass es anders gar nicht ginge. (Lernen ist immer selbstgesteuert.)
 Nüchtern betrachtet, gelten zwei Beanstandungen als unbestritten: Der unzeitgemässe Einmethodenunterricht und die vernachlässigte Teamarbeit. In «Rilkes» Profil finden sich sonst lauter dicke Pluspunkte. Die Erfolgsbilanz dieses hochgeschätzten Lehrers spricht für sich. Doch die kleinkarierte Sicht einer sturen Checklistenstrategie könnte den Mann beruflich gefährden. Er würde wohl heute aus dem Schuldienst entfernt.
Die periodisch anberaumten Veranstaltungen zur Qualitätsbeurteilung konzentrieren sich vorzugsweise auf die Überprüfung der Unterrichtstätigkeit und der pädagogischen Gestaltung der Schule, deren Realisierung in die Verantwortung der Lehrerinnen und Lehrer fällt.
  • Die praktizierte Schulevaluation ist pseudoprofessionell
Den Evaluationsteams steht die Befugnis zu, gegebenenfalls nach eigenem Ermessen in die Autonomie der Schulhausteams und in die Methodenfreiheit der Lehrpersonen einzugreifen. Die Befunde der Schulevaluation beruhen aber nicht auf objektiven Messungen und erfüllen schon darum die Regeln für eine wissenschaftsbasierte Gültigkeit nicht. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit des gleichberechtigten Diskurses zwischen Evaluatoren und den Evaluierten. Es geht nicht an, durch faktischen Zwang (Angst) konkrete Massnahmen zu verordnen, wie das in «Zielvereinbarungsdiktaten» heute üblich zu sein scheint. Unterrichtsbezogene «Qualitätsurteile» sind konzertierte Einschätzungen, also keine objektiven Befunde.
Jeder weiss, dass die Gestaltung von Unterricht fundamental und dauerhaft durch die Persönlichkeit des Lehrenden geprägt ist. Dies gilt besonders für Lehrpersonen, welche ihre Aufgaben als kreativ und erfüllend wahrnehmen. Diesem Umstand ist Rechnung zu tragen. Warum dem Meinungskonstrukt einiger dem Lehrerberuf erfolgreich entronnenen Funktionären mehr Wahrheitsgehalt zukommen soll als der Selbsteinschätzung ausgebildeter Schulpraktiker, welche sich tagtäglich inmitten des Geschehens behaupten müssen, steht in den Sternen.
Anregungen zur Verbesserung des Unterrichts durch den Einsatz unterschiedlicher Methoden und Strategien sowie notwendige Korrekturen können mit den Möglichkeiten der schulinternen Evaluation(aus der Praxis – für die Praxis), kurzwegig und ohne viel Bürofirlefanz wahrgenommen und kontrolliert werden.
  • Nicht die Wege im Unterricht, sondern die Erfüllung der Lehrplanziele ist das zentrale Merkmal guter Schulen
Wesentlich hilfreicher als die checklistenbewehrte Überwachung des Unterrichts wäre die periodische Überprüfung der erreichten Lehrplanziele und eine höhere Gewichtung des Unterrichtsklimas. Ersteres ist aber heute nicht Aufgabe der Schulevaluation. Es ist wohl eine Frage der Präferenz, vor allem aber der Anforderungen an die Evaluatoren. Die Überprüfung der Lehrplanziele erfordert wissenschaftliche Methoden auf statistischer Basis. Mehr stille Arbeit, weniger Rhetorik könnte keinesfalls schaden. Die bisherige Unterrichtsbeurteilung auf dem «freien Markt des Schul- und Unterrichtsgeschehens» kamen nicht ohne die Stütze eigener Weisungsbefugnis als Machtinstrument aus.
Es ist wesentlich zu wissen, ob die künftige praktische Ausrichtung der Schulhausteams und des Unterrichts durch Meinungsmodule aus der Küche der Evaluationsinstanz bestimmt wird.
  • Die Schulevaluation wirkt faktisch n o r m a t i v
Sicher widerspricht es der Methodenfreiheit, e i n e Methode beziehungsweise Weltanschauung, wie den pädagogischen Konstruktivismus zu präferieren oder gar kategorisch zu fordern, auch nicht unter dem Label eines künftigen Lehrplans 21. Ebenso abstrus ist die gängige Forderung auf Verzicht der in vielen Situationen effektivsten Unterrichtsform, der direkten Instruktion (Frontalunterricht).
Die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen wird heute auf zunehmend selbständiges und selbstreguliertes Lernen ausgerichtet. Dieses erfordert aber ein bestimmtes methodisches Prinzip, das einer bestimmten didaktischen Logik (Selbststeuerung) und weltanschaulicher Prämisse (Konstruktivismus) folgt, was alles andere als unbestritten ist. Der Lehrplan 21 fordert faktisch genau dieses eine methodische Prinzip und behindert so, entgegen allen Beschwichtigungen, die Methodenfreiheit. Festgenagelt wird diese willkürliche Ausrichtung durch die künftige Verwendung konstruktivistisch konzipierter Lehrmittel, zu denen Alternativen mit freieren Konzepten nicht vorgesehen sind.
  • «Ich bin zunächst mein eigener Experte»
Der Unterrichtspraktiker benötigt keine besondere Legitimierung, sich als Experte für Schule und Unterricht zu sehen, sofern er die Berufsausbildung erfolgreich absolviert und durch Examinierung bestätigt hat. Es ist hilfreich, wieder mehr berufliches Selbstbewusstsein zu zeigen. «Expertinnen und Experten» abseits der Unterrichtspraxis gibt es genug, denen die verbale Abhebung freizügig zugesprochen wird, ohne je den praktischen Tatbeweis hierfür erbracht zu haben.
Der eingangs arg zerzauste und nun ordentlich rehabilitierte «Rilke» hätte die Zaubereien im heutigen Schulwesen wohl auf seine Weise gebannt und gerufen: «Wola, wiht, taz du weizt, taz tu wiht heizist, taz tüne weizt noh ne chanst cheden chuospinci.»
[Wohlan Wicht, du mögest wissen, dass du (ein) Wicht (bist), dass du
weder (den) Kuhzauber weisst, noch aussprechen kannst.]

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