7. Dezember 2014

Individualisierung statt Harmonisierung

Die mit dem Lehrplan 21 angestreibte Harmonisierung des Bildungswesens ist ein Trugbild: In Wirklichkeit werden die Stoffziele individualisiert und altersdurchmischt gelernt. Im Kanton St. Gallen wurde eine Initiative, die den Lehrplan 21 vors Kantonsparlament bringen wollte, für ungültig erklärt. Nun sammelt ein Komittee Unterschriften zur Kündigung von Harmos. Ein Interview mit Sepp Zahner, Initiant dieser Initiative.




Möchte beim Lehrplan 21 den Rotstift ansetzen: Sepp Zahner, Bild: Martina Heinrich

Ist der Lehrplan 21 praxistauglich? Toggenburger Zeitung, 2.12. von Martina Heinrich


In einer eidgenössischen Volksabstimmung hat das Schweizer Volk 2006 mehrheitlich der Neufassung des Bildungsartikels in der Bundesverfassung zugestimmt, der eine „Harmonisierung des Schulwesens im Bereich des Schuleintrittsalters und der Schulpflicht, der Dauer und Ziele der Bildungsstufen und von deren Übergängen" verlangt. Die Stimmbürger erwarteten daraufhin eine Vereinheitlichung der kantonalen Schule im Sinne einer demokratischen, föderalistischen Lösung, durch welche die einzelnen Kantone ihre verschiedenen Lehrpläne angleichen würden. Stattdessen ist von der D-EDK-Bürokratie ein einheitlicher Lehrplan für die deutsche Sprachregion entwickelt worden, der einen umwälzenden Paradigmenwechsel darstellt. Seit 2007 ist es für einzelne Kantone in der Schweiz möglich, dem HarmoS-Konkordat beizutreten und somit die Qualität und Durchlässigkeit des Schulsystems zu sichern sowie Mobilitätshindernisse bei Umzügen von Familien abzubauen. Der Kanton St. Gallen hat im Jahre 2008 diesem Konkordat bei tiefer Stimmbeteiligung sehr knapp zugestimmt. Der Lehrplan 21 soll an den Schulen im Kanton St.Gallen ab Sommer 2017 eingeführt werden, wie Erziehungsdirektor Stefan Kölliker Mitte November mitteilte. Der St.Galler Erziehungsrat hält am Fahrplan für den neuen Lehrplan fest, trotz Widerständen aus der Bevölkerung und auch der Politik. Der Lehrplan sei zeitgemäss, lobt Stefan Kölliker das 470 Seiten umfassende Werk für den zukünftigen Schulunterricht.
Der Verein Starke Volksschule St. Gallen wurde am 21. April 2014 in Staad gegründet. "Wir zählen über 70 Mitglieder und Sympathisanten: Eltern, Grosseltern, Parteimitglieder aller Couleurs, National-, Kantons- und Schulräte, Kindergärtnerinnen, Primar-, Oberstufen- und Berufsschullehrer", so Präsident Michael Fitzi. «Im Lehrplan 21 geht es um Kompetenzorientierung statt um Inhaltsorientierung. Ein moderner Lehrplan hat sich an messbare, systematische und strukturierte Fächerjahreslernzielen zu orientieren", so Fitzi weiter, "jede Regung des Schülers wird als Kompetenz definiert und soll überprüft werden. Mit der Umsetzung des Lehrplans 21 wird es eine Diskussion über die notenfreie Schule geben – in allen Fächern."
Einer der sich als Beisitzer im Verein der Starken Volksschulen engagiert ist Sepp Zaner aus Kaltbrunn.
Der Verein "Starke Volksschule St.Gallen besteht aus Eltern, Lehrer und Schulbehörden – Sie, Herr Zahner, gehören zu keiner dieser Kategorien. Warum engagieren Sie sich?
"Als selbständiger und politisch interessierter Bürger weiss ich, dass viele Prozesse lange dauern, im Positiven wie im Negativen. Dereinst möchte ich die mir zustehende AHV beanspruchen, für die ich jetzt einzahle. Das geht aber nur, wenn die jungen Leute, die jetzt zur Schule gehen, auch wieder beruflich erfolgreich werden, und einen positiven Beitrag an die Volkswirtschaft leisten. Die Volksschule ist dabei ein sehr wichtiges Element. Der Lehrplan 21 wird zwar schön geredet, doch er ist nicht kindgerecht und dient anderen Zielen. Wenn Regierungsrat Kölliker sagt, er sei zeitgemäss, dann frage ich: Ist es zeitgemäss, dass Lehrmeister, Berufsschullehrer und andere "Abnehmer" der Volksschule schon heute klagen, weil die Schulabgänger immer schlechter werden, oft kaum mehr Rechnen und Schreiben können?"
Seit der Umsetzung des Harmos- Konkordates wird in unserem Kanton jetzt schon ab der 3. Klasse mit Englisch und ab der fünften mit Französisch gestartet. Für Kinder in der Ostschweiz, unabhängig ob Einheimische oder Immigranten, ist jedoch bereits schon Hochdeutsch eine Art Fremdsprache. Finden Sie das auch Herr Zahner?
"Schriftdeutsch ist die sprachliche Grundlage des Schriftverkehrs im deutschsprachigen Raum. Kindergärtler sollen Kind sein dürfen, sich in der Muttersprache, im Dialekt lernen, auszudrücken und so ihre Identität aufbauen. Entwicklungs- und Lernpsychologen empfehlen, die Eltern sollen mit ihren Kindern die Muttersprache richtig sprechen, egal, welche das ist. Ab der ersten Klasse soll wie früher das ABC und Hochdeutsch strukturiert und altersgerecht gelernt werden, das ist fürs spätere (Berufs-)leben sehr wichtig. Eine Fremdsprache sollte frühestens ab der 5. Klasse, die 2. in der Oberstufe gelehrt werden. So werden wieder dringend benötigte Lektionen frei für Deutsch, Rechnen, Werken, Geschichte usw. Ich bin dankbar für den engagierten Deutschunterricht, mit Grammatik, Aufsätzen und Diktaten. Alles wurde immer korrigiert und erklärt, was schon heute nicht mehr immer der Fall ist und mit dem Lehrplan 21 noch viel krasser wird. Nach dem Lehrplan 21 sollen die Kinder selbstgesteuert, autodidaktisch lernen, sie sollen sich selber korrigieren mit Rechtschreibeprogrammen im Internet. Wohin führt das? Viele werden scheitern. Eltern werden noch mehr gefordert mit Hausaufgaben, die heutige Situation mit all den Sonderpädagogischen Betreuungen, wird sich verschlimmern. Das Gleiche gilt beim Rechnen: Anstatt zu korrigieren und üben, bis sie es können, brauchen sie ja nur die Kompetenz, wie mit dem Taschenrechner oder via Internet die Aufgabe gelöst werden kann. Üben sollen sie selbständig zu Hause, wer das nicht macht, wird fallengelassen."
Was stört Sie persönlich am Lehrplan 21?
"Der Lehrplan 21 zementiert einen grundlegenden Paradigma-Wechsel, eine grosse Veränderung. Er führt weg von der klar geführten Wissensvermittlung hin zur unsystematischen Anhäufung von Kompetenzen, selbstgesteuertem oberflächlichem Lernen, ohne eigenständiges Denken wirklich zu fördern. Er stammt aus der Feder der OECD, und soll hinter dem Rücken der Bevölkerung eingeführt werden. Es sollte doch selbstverständlich sein, dass derart gravierende Änderungen öffentlich diskutiert werden müssen, damit die Bürger sich ein Bild machen und darüber abstimmen können. Aber die Regierung scheut sich davor, das beweist, dass etwas nicht stimmt."
Kinder sind Zukunft. Ist der Lehrplan 21 für Sie nicht genug zukunftsträchtig?
"Absolut, Kinder sind die Zukunft, auch wenn ich leider keine eigenen habe. Der Lehrplan 21 ist nicht kindgerecht, er geht in die falsche Richtung und verstärkt die heutigen Missstände."
Liegen die von Ihnen angesprochenen Missstände auch im Elternhaus?
"Teilweise. Wenn Eltern ihre Kinder gut anleiten, die Kinder intelligent sind, dann schadet auch eine schlechte Schule weniger. Aber das sind vielleicht 10 oder 20 Prozent der Schüler. Wenn Kinder zu hause keine Strukturen haben, was leider heute oft der Fall ist, brauchen sie diese umso mehr in der Schule. Sie werden zwar rebellieren, doch so bekommen sie Halt. Dazu braucht es gut ausgebildete und geeignete Lehrpersonen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, die eine gesunde Autorität haben, Bezugsperson und Vorbild sind. Die Kinder brauchen wohlwollende, klare Anleitungen,und manchmal etwas Druck, denn Kinder wollen die Grenzen austesten. Dazu brauchen die Lehrer brauchen einen einfachen, klaren, strukturierten Rahmen- Lehrplan, der ihnen den Rücken stärkt für ihre Aufgabe."
Herr Zahner, macht ein schweizweit einheitliches Bildungssystem nicht Ihrer Meinung nach Sinn?
"Sicher, die Frage ist das Wie! Einerseits muss die Kantonshoheit unbedingt erhalten bleiben, was mit HarmoS nicht mehr der Fall ist. Anderseits ist durch HarmoS sogar innerhalb des Kantons ein Durcheinander in den Schulen entstanden. Artikel 8 von HarmoS zwingt uns, Lehrpläne zu übernehmen. Mit dieser Begründung wurde unsere Initiative "Lehrplan 21 vors Kantonsparlament", als ungültig erklärt, wo noch ein Rekurs hängig ist. Darum sammeln wir jetzt Unterschriften für die Initiative zur Kündigung von HarmoS. Die Lehrplan 21-Propaganda verspricht nun endlich die ersehnte Harmonisierung und Vereinfachung, aber das ist nicht wahr. Jahrgangs- und Quartalsziele fehlen. Stattdessen soll individualisiert werden, d.h. die Klasse erarbeitet nicht mehr gemeinsam den Stoff. Sogar altersdurchmischtes Lernen und Integration von Behinderten in Regelklassen soll Standard werden. Wie sollen denn diese Kompetenzen geprüft werden?  Ältere Lehrer werden wie bis anhin unterrichten, ausser sie kommen durch den Lehrplan 21 von Amtes wegen unter Druck. Aber was machen die jungen Lehrer? Die Ausbildung an den pädagogischen Hochschulen ist bereits Lehrplan 21-konform. So gibt es doch tatsächlich Lehrer, die nicht in der Lage sind, 2 Sätze fehlerlos zu schreiben. Aber sie sind "zeitgemäss" und Lehrplan-21 konform von der pädagogischen Hochschule ausgebildet worden. So kann es nicht weiter gehen. Um wieder die Selbstbestimmung über die Volksschule zu erreichen, hat sich der überparteiliche Verein www.starkeVolksschuleSG.ch gebildet. Neue Mitglieder und Interessenten, auch Lehrpersonen und Politiker, sind herzlich willkommen. Bildungsbürokratie abbauen - HarmoS kündigen! Für jede Hilfe sind wir dankbar."


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