Manfred Schneider lehrt deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum
Zappelphilipp, eine Karriere, NZZ, 11.12. von Manfred Schneider
Gibt man bei Amazon in die Suchleiste für Bücher
die vier Buchstaben ADHS ein, so erhält man gegenwärtig 1382 Angebote, die eine
Beschreibung, Erklärung oder auch Therapie für die seit 25 Jahren gehäuft
diagnostizierte «Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität» enthalten. Die
gleiche Suchleiste für die englischsprechende Leserschaft bietet unter der dort
üblichen Abkürzung ADHD rund 7000 Buchtitel. In Italien stellt der gleiche
Anbieter 437 Druckwerke zum Thema bereit, in Frankreich sind es nur 160,
während die Japaner in 666 Titeln Aufklärung und Hilfe suchen können.
Das ist nur eine Momentaufnahme. Aber die zum Thema
veröffentlichten Statistiken zeigen ebenfalls an, dass in Deutschland im Jahr
2011 rund 600 000 Kinder eine ADHS-Diagnose erhielten, während in Frankreich
etwa zum gleichen Zeitpunkt nur 200 000 Kinder und Jugendliche unter diesem
Krankheitsbild geführt wurden. In Italien war es nicht einmal die Hälfte davon.
Das hübsche Wörtchen «Aufmerksamkeitsdefizit» hat in den Jahren seit 1990
gemeinsam mit dem alten deutschen Struwwelpeter-Wort «Zappelphilipp» eine
steile Karriere gemacht, wie man der Statistik des Ngram-Viewers von Google
entnehmen kann, der die Häufigkeit bestimmter Wörter in deutschsprachigen Büchern
von 1800 bis 2000 verzeichnet.
Erstaunliche Dinge
Wie lassen sich diese Daten und diese Unterschiede
deuten? Sind die französischen und italienischen Jugendlichen weniger
hyperaktiv als die amerikanischen, japanischen und deutschen? Oder sind Eltern
und Lehrer in Deutschland gegenüber hyperaktiven Kinder weniger tolerant als
die Erzieher in Frankreich und Italien? Oder leiden französische wie
italienische Ärzte und Neurologen an einer Störung der Aufmerksamkeit für
Aufmerksamkeitsstörungen?
Wer sich ein wenig in der Literatur umschaut,
erfährt über die Geschichte dieser Krankheit erstaunliche Dinge. Auf der
Website der französischen TDAH-Vereinigung liest man, dass ein Deutscher namens
H. Hoffmann diese Krankheit 1845 als Erster beschrieben habe. Hinter dem Namen
verbirgt sich der hinreichend bekannte Autor des Struwwelpeter-Buches, der die
Geschichte des Zappelphilipps gezeichnet und gereimt hat. Als zweiter Ahnherr
der TDAH-Diagnostik wird an gleicher Stelle der Psychiater Désiré Magloire
Bourneville angeführt, der um die Wende zum 20. Jahrhundert ein Pionier der
Sonderschulbewegung war und 1895 über die Gründung eines Instituts für «enfants
idiotes, épileptiques et dégénérés» in Vitry berichtete. Unter dem Titel
«Assistance, traitement et éducation des enfants dégénérés» beschrieb er darin
vor allem Kinder, die unter «mentaler Instabilität und krankhaften
Bewegungsimpulsen» litten, die sie daran hinderten, sich den Regeln der Schulen
zu fügen.
Niemand zweifelt daran, dass es solche Kinder gab
und gibt. Blicke ich in meine eigenen Zeugnisse, die mir als Sechs- und
Siebenjährigem unangepasstes Verhalten bescheinigten, dann lese ich dort «M.
kann sich nicht recht in die Schulordnung einfügen» oder «M. stört viel». Kein
Neurologe weit und breit, der an mir damals die Bournevilleschen Anzeichen
kindlicher Idiotie und Degeneration ablas; von den 1397 deutschen
ADHS-Ratgebern war auch noch keiner gedruckt; nirgendwo rührte sich eine
hilfreiche Hand, die das Kind mit Ritalin-Tabletten vom Zappeln erlöste. Einzig
tadelnde Lehrer- und Elternblicke streiften den Schädel dieses Kindes, worunter
(nach heutiger Erkenntnis) die Stirnlappen bei ihrer Tätigkeit schlampten und
die Dopaminrezeptoren ihr Unwesen trieben.
Das ist lange her. Es dauerte noch einige
Jahrzehnte, ehe aus dem Zusammenwirken von Eltern, Pädagogen, Ärzten und
pharmazeutischen Marketing-Genies ein so ungenaues Krankheitsbild errichtet
wurde, dass heute durchschnittlich 5 Prozent der (vor allem männlichen)
amerikanischen, europäischen und demnächst auch asiatischen Population zu
ADHS-Patienten zählt. Diese massenepidemiologische Verwüstung stiftete einmal
das ICD-10, ein Klassifikationsschema für alle Arten von psychischen
Krankheiten, das die Unesco erstellt hat. Damit wurden die Symptome und Zeichen
aller psychischen Krankheiten zu einer pathologischen Weltsprache globalisiert.
Jetzt sind alle psychischen Anomalien in allen Winkeln der Erde gleich, und man
kann darauf wetten, dass ADHS bald in allen Weltkulturen festgestellt und
behandelt werden wird.
Melancholie und Hysterie
Die grösste globale Wirkung erzielte das DSM IV,
das «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» der American
Psychiatric Association. Dieses Handbuch listet die Symptome der ADHS-Störung
in einer Form auf, die ihre Diagnose zum Kinderspiel beförderte. Jetzt können
Eltern, Lehrer, Erzieher, Polizisten durch Abhaken von mindestens sechs
charakteristischen Symptomen die Diagnose ADHS erheben. Daher stellte der
namhafte amerikanische Psychiater Allen Frances, ein Mitverfasser der DSM IV,
vor kurzem in seiner Streitschrift gegen die ausser Kontrolle geratenen
psychiatrischen Diagnosen fest: «Dies war eine glückliche Fügung für die
Pharmaindustrie. Jetzt entsandte sie ihre Vertreter in alle Welt, um Eltern,
Lehrer, Ärzte zum Generalangriff gegen ADHS zu rekrutieren.» Seitdem schleppt
sich vor allem durch die westliche Hemisphäre ein zerstreutes, hyperaktives
Millionenheer von Stirnlappenkrüppeln und Dopamin-Idioten.
Erfahrungen mit Hirn- oder Seelenkrankheiten, die
aus getrübten Beobachterblicken hervorgingen, machte die europäische Menschheit
bereits in vergangenen Epochen. Im 18. Jahrhundert war es für jeden
Intellektuellen Ehrensache, an Melancholie zu leiden. Zu der Zeit verstand man
diese Krankheit als Unordnung der Körpersäfte. Doch diese Erklärung des
römischen Arztes Galen war durch die Wiederkehr der pseudoaristotelischen
Lesart verdrängt worden. Danach hing die Melancholie zwar mit einem Überschuss
an schwarzer Galle zusammen, aber sie gehörte auch zur Naturanlage der Helden
und Genies. In unseren postheroischen und postgenialischen Tagen bietet
Melancholie keine Distinktionen mehr. Vermutlich tritt die Depression ihr
kulturelles Erbe an, über die Ähnliches zu sagen wäre (36 000 Buchtitel zum
Thema «Depression» unter Amazon.com).
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stieg dann die
Hysterie zur weiblichen Modekrankheit empor. Migräne, Ohnmachten und diffuse
Ängste zählten jetzt zum neurotischen Repertoire bürgerlicher Frauen. Der eben
erwähnte Désiré Magloire Bourneville gab zwischen 1875 und 1897 mit Paul
Regnard und Jean-Martin Charcot die «Iconographie photographique de la
Salpêtrière» heraus, ein klinisches Bildwerk, das die Hysterie in ihren
verschiedenen Ausdrucksformen beschrieb und fotografisch dokumentierte. Ärzte,
Frauen, Künstler begeisterten sich für diese Krankheit, und Sigmund Freud
verfasste mehrere seiner grossartigen Fallgeschichten über seine hysterischen
Patientinnen. Kurz darauf gesellte sich schwesterlich die Symptomatik der
gespaltenen Persönlichkeit zur Hysterie, und der 1908 erschienene Fallbericht
über Christine Beauchamp «The Dissociation of a Personality» von Morton Prince
wurde zu einem vielgelesenen Buch. Nicht nur einfache, sondern vierfache und
achtfache Spaltungen erkannten die Kliniker der Epoche. Diese
Spaltungsgeschichten rissen sogar Hugo von Hofmannsthal dazu hin, eine Figur
seines fragmentarischen Romans «Andreas oder die Vereinigten» nach diesen
Krankheitsbögen zu entwerfen. Aber wo sind die gespaltenen Persönlichkeiten, wo
ist die Hysterie heute geblieben? Hysterie lässt sich allenfalls in der
gegenwärtigen Mode der ADHS-Diagnostik erkennen, wo Krankheitswahn und
Normalitätsbesessenheit einander die Hand reichen.
«Ça n'empêche pas d'exister»
Den literarischen Kult um ADHS beleben nicht nur
die 1382 Buchtitel, sondern ebenso der Übereifer mancher Autoren, die sich in
Selbstversuchen mit Ritalin, dem Methylphenidat, das häufig bei ADHS
verschrieben wird, dopen und darüber berichten. Es klingt nach heroischem
Erlebensjournalismus. Dabei genügte es, die klinischen Studien zu lesen, die zu
den angeblich leistungsfördernden Effekten des Methylphenidats angefertigt
worden sind. In einer 2007 vorgelegten Studie, die die Leistungen von 370 ADHS-Schülern
mit und ohne Ritalin-Verordnung über sechs Jahre hinweg miteinander verglich,
wiesen Mediziner am Department of Pediatric and Adolescent Medicine der
Mayo-Klinik nach, dass die mit Stimulanzien behandelten Kinder nur minimal
besser abschnitten als die Gruppe der nichtstimulierten Kinder. Sie schwänzten
nur weniger.
Noch einmal: Für ADHS gilt, was der Hysterie-Papst
Jean-Martin Charcot Ende des 19. Jahrhunderts zum zweifelnden Sigmund Freud
sagte: «Ça n'empêche pas d'exister.» In der Tat: Es gibt Patienten, bei denen
ADHS korrekt diagnostiziert wird und denen bisweilen auch mit stimulierenden
Medikamenten geholfen werden kann. Aber die Welt, die besorgt und bisweilen
verständnislos nach Afrika und auf die Ebola-Epidemie blickt, sollte auch
wieder zurückblicken und sich eingestehen, dass es kulturelle Pandemien gibt.
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