Wie im Kanton Zürich die Primarfremdsprachen "wissenschaftlich" abgesegnet wurden, widerspricht dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit, mit welchem die Kritiker mundtot gemacht werden sollten. Besonders in der Frage der Fremdsprachen ist die Unabhängigkeit und Integrität der Forschenden zentral. Nur allzu oft galt die Maxime: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
In der Ausgabe 2/08 von Babylonia äusserte sich Daniel Stotz zur Studie von Urs Kalberer. Der Autor durfte in Babylonia 3/09 Stellung nehmen und forderte unter anderem mehr Unabhängigkeit in der Forschung. Mittlerweile sind fünf Jahre vergangen, die Forderung hat nichts von ihrer Dringlichkeit eingebüsst. (uk)
Es lohnt sich genau hinzuschauen, woher die Kritik kommt, Bild: ynovation.de
Replik zu "Den Übergang meistern", Babylonia 3/2009 S. 53-56 von Urs Kalberer
In meiner Studie
(Kalberer, 2007) habe ich Testresultate von Schülern unterschiedlichen Alters
und Unterrichtsdauer miteinander verglichen. Dabei ging es mir um die
Überprüfung der folgenden populären Thesen zum frühen schulischen Fremdsprachenunterricht
(FSFU): 1. „Jünger ist besser“ und 2. „Mehr
ist besser“. Es zeigte sich dabei,
dass ältere Schüler bei gleicher
Lektionszahl durchwegs bessere Leistungen
als jüngere Schüler erzielen. Der
Ver-gleich von gleichaltrigen Kindern mit unterschiedlich langer
Englisch-Ausbildung deutet an, dass die
Zeitdauer des Unterrichts ein zweifelhafter
Indikator für die zu erwartende
Sprach-kompetenz ist. Die Resultate scheinen zu
zeigen, dass Englischunterricht
gegen Ende der
obligatorischen
Schulzeit effizienter ist als zu Beginn.
Ebenfalls zeichnet sich ab, dass eine
Verteilung der Lektionen über längere Zeit (im Kanton Zürich zwei bis drei
Lektionen pro
Woche während acht
Schuljahren) weniger bewirkt als
eine kompaktere. Ich folgere daraus,
dass die hohen Erwartungen, die in
den FSFU gesetzt worden sind,
möglicherweise nicht
erfüllt werden
können.
Ich werde im
Folgenden zuerst einen Blick auf die
zwischenzeitliche Entwicklung in der Forschung werfen und diese mit meinen
eigenen Schlussfolgerungen vergleichen. An-schliessend gehe ich auf einzelne
Punkte von Stotz‘Artikel ein und
werde zum Schluss die
Argumentation von Stotz in einem grösseren
Zusammenhang darstellen. Was hat
sich also in der Zwischenzeit in der
Forschung getan?
Generell Vorteile für ältere Schüler
Wenn wir die aktuell
zur Verfügung stehenden Daten zum frühen schulischen Fremd-sprachenlernen überblicken, dann
fällt eines auf: Die Situation für die
Befürworter sieht alles andere
als beruhigend aus (Singleton, 2004). In
jüngster Zeit hat sich die
Datenlage noch zugespitzt: Vergleichsstudien aus Spanien zeigen, dass „sich
der Entscheid zur Vorver-legung des
Fremdsprachenunterrichts als
ungerechtfertigt erwiesen hat …“
(Abello-Contesse, 2006: 17). Besonders
erwähnenswert gilt hier auch die Meinung
einer beken-nenden Befürworterin des
FSFU (Nikolov, 2009: 98). Sie kann
in ihrer Studie nur eine schwache
Korrelation zwischen frühem (und
entsprechend längerem) Unterricht und der
Testleistung gegenüber Spätstartern feststellen. Dies gilt für alle
untersuchten Fertigkeiten
(Hören, Lesen und
Schreiben). Ihre Daten scheinen also,
wie sie selbst schreibt (Nikolov,
2009: 99), die Effizienz des FSFU in
Zweifel zu ziehen. Speziell
überrascht hat sie die
schwache Leistung im
Hörverstehen. Besonders Frühlernern
hat man in diesem rezeptiven
Bereich Vorteile zu geschrieben. In der Fachwelt bestreitet in der Zwischenzeit
niemand mehr ernsthaft die
Überlegenheit des älteren Lerners. Die vorhandenen Daten sprechen eine
deutliche Sprache, bis heute warten wir auf
Studien, insbesondere aus der Schweiz,
welche den langfristigen Nutzen
des Experiments des frühen
schulischen Fremdsprachen-lernens aufzeigen. Ungeachtet dieser wackligen
Argumentationsbasis wird bei uns der
bildungspolitische Fahrplan
weiterverfolgt, begleitet von Gutachten, die
seltsamerweise
noch nie die
Grundsatzfrage: „Was bringt es?“,
untersucht haben. Nach wie vor ist deshalb
die erfolgte Einführung von Frühfremdsprachen nicht mit pädagogischen
Argumenten zu
rechtfertigen.
Wenn wir die aktuelle
Datenlage mit meinen
ursprünglich gemachten Aussagen vergleichen,
so stellen wir weitgehende
Übereinstimmungen fest. Die Anwendung der
These „Je früher desto besser“ auf das
schulische Lernumfeld entpuppt sich als eine grobe
Fehlinterpretation
(Abello-Contesse, 2006), Scovel (2006:
43) spricht von einem Mythos. Unter
den gegebenen Bedingungen ist es
unwahrscheinlich, dass ein früher Start
zu bes-seren Leistungen führen wird. So bemerkt auch Nikolov (2009: 100),
dass der Einfluss der wöchentlichen
Lektionszahl auf die Leistung stärker
ist als die Anzahl der Unterrichtsjahre.
Mangelnde
Wissenschaftlichkeit?
In seinem Artikel
geht nun Stotz nicht etwa auf die relevanten
Punkte ein, sondern be-schränkt sich auf eine Methodenkritik
meiner Studie. Insbesondere wird die
Auswahl der
Samples („…die
Zusammensetzung des Samples geben
jedoch Anlass zu Fragen und
Einwänden“) kritisiert. Da zum Zeitpunkt der
Studie schweizweit keine anderen Samples
zur Verfügung standen, ist es
müssig, andere Samples einfordern zu wollen. Ausserdem scheint Stotz für
Forschungszwecke auf klinisch irrealen
Voraussetzungen zu beharren. Seit der
fehlgeschlagenen Harmonisierung im Fremdsprachenunterricht,
die es den Kantonen erlaubt, den
Fremdsprachenunterricht mit einer Landessprache oder mit Englisch zu beginnen, werden
uneinheitliche Samples zum
Schulalltag gehören. Da auch in der Frage der
Lehrmittel keine Einheit in Aussicht
ist, wird auch die methodische Vielfalt
zu den Merkmalen der schweizerischen Lehrgänge gehören. Es ist darum
fragwürdig, hier
homogene Lerngruppen
einzufordern, ganz einfach, weil es
diese auch im Schulalltag nicht
geben wird.
Ein erfolgreicher
Sprachunterricht hängt von ganz vielen
verschiedenen Faktoren ab. Zu
erwähnen sind hier beispielsweise die
Sprachkompetenz der Lehrperson, das
sozio-kulturelle Milieu des Schülers,
die angewandte Lehrmethode und die
Motivation des Schülers. Alle
diese Teilaspekte beeinflussen den
Lernerfolg, sind jedoch schwierig zu
kontrollieren, da sie unterschiedlich
ausgeprägt sind und sich gegenseitig
verstärken oder
neutralisieren
können. Gewiss haben unterschiedliche
methodische Konzepte ihren Ein-fluss. Im Unterschied zum Alter sind sie
jedoch individuell stark unterschiedlich
ausgeprägt. Was fürs eine Kind
vorteilhaft ist, kann für ein anderes den
Lernprozess bremsen. Unab-hängig von diesen
Faktoren handelt es sich nun aber beim Alter um einen Faktor, der
eine andere Qualität aufweist. Der
Sammelbegriff „Alter“ vereinigt ein Bündel
von Faktoren,
welches einen
gleichgerichtet positiven Einfluss auf den Lernerfolg hat. Die kognitive
Entwicklung schreitet mit zunehmendem Alter
voran. Damit verbunden ist die
sozio-kognitive Kompetenz und ganz
allgemein das Weltwissen. Ebenfalls
weiterentwickelt ist die Kompetenz in der Erstsprache. Im Unterschied zu den
oben erwähnten Faktoren,
die individuell stark differieren,
haben wir es beim Alter mit einem
Phänomen zu tun, das
durchwegs positiv mit
dem Lernerfolg korreliert. So können
Jugendliche lernhindernde
Faktoren (z.B. eine ungeeignete Methode)
durch eigene Bemühungen
kompensieren – ein
Mittel zu dem junge
Primarschüler noch nicht fähig
sind. Deshalb kann die Forderung nach
der Berücksichtigung einer bestimmten Lernmethode nicht
gleichberechtigt neben dem viel
grundsätzlicheren
Merkmal des Alters stehen. Stotz‘Urteil
„Der wohl gröbste Makel in der
Wissenschaftlichkeit der Studie geht auf die
Vernachlässigung der
methodisch-didaktischen Ebene des Unterrichts
zurück“ ist darum nicht haltbar.
Schauen wir
uns doch dazu die veröffentlichten
Vergleichsstudien etwas genauer an.
Keine dieser Studien versucht auch nur
ansatzweise, die verschiedenen
didaktischen Konzepte
zu berücksichtigen.
Unabhängig von der praktizierten
Methode kommen die Vergleichs-studien
dennoch zu übereinstimmenden
Schlussfolgerungen: Der spärlich erteilte, frühe
schulische
Fremdsprachenunterricht sei ineffizient im
Vergleich zu einer später einset-zenden
Förderung (Lightbown, 2003). Hier macht es sich Stotz vielleicht ein wenig
zu einfach. Seine Fixierung auf
Qualitätskriterien, die in der
internationalen Forschung in diesem Bereich
vermieden werden, lässt den Eindruck
aufkommen, dass nicht sein kann,
was nicht sein darf. Das
Naheliegendste wäre doch, Schlüsse aufgrund von
Daten, welchen
man misstraut, durch
entsprechende eigene Studien zu
entkräften. Hier liegt der Ball
weiterhin auf Seiten der Befürworter der
Frühfremdsprachen. Der Bedarf an
weiteren Daten ist jedenfalls akut, wie
Enever (2007: 218) schreibt: “In
summary, these … arguments for making
an early start to learning languages in
school continue to be based on rather
thin evidence of the real gains to be
made”.
Hirnforschung
missverstanden
Ich weise in meiner
Studie darauf hin, dass die
Anwendbarkeit von neurologischen Erkenntnissen auf die Schule generell überschätzt
werde. Stotz entgegnet, das Argument der neurologischen Vorteile sei „kaum je“
eingesetzt worden. Wir wissen
alle, dass frühes Sprachenlernen
hierzulande konstant und systematisch mit
hirnbiologischen
Vorteilen in
Verbindung gebracht worden ist. Ja mehr
noch: Das hirnbiologische Argument war ein Pfeiler im Gesamtsprachenkonzept
von 1998 und war ein
entscheidender Bestandteil des Beschlusses der
Plenarversammlung der EDK, die sich
sogar ausdrücklich
darauf bezieht:
„…frühes Sprachenlernen ist effizienter“ (EDK, 2004: 4). In der
Zwischenzeit sind jedoch schwere Bedenken zur
Seriosität dieses neurologischen Argumentariums
vorgebracht worden
(Herzog, 2005), weshalb dieser Aspekt
von den Befürwortern des FSFU notgedrungen fallengelassen wurde.
Die wirkliche
Herausforderung
Ohne seine Haltung zu
begründen, hält Stotz den FSFU a
priori für „begrüssenswert“.
Nach Stotz ist die
Erarbeitung einer soliden Wissensbasis
zum FSFU eine bedauerliche
Ablenkung von der wirklichen Herausforderung, die sich uns stelle, nämlich den
Übergang von der Primar- zur
Sekundarstufe zu optimieren. Hier zeigt sich die grundsätzliche
Differenz unserer
Positionen: FSFU allein reicht eben
nicht aus. Eine Vorverschiebung des Fremdsprachenunterrichts ohne gleichzeitige
Erhöhung der Lektionenzahl,
Reduzierung der
Klassengrösse und
muttersprachliche Sprachkompetenzen der
Lehrpersonen bringt keinen
nennenswerten Kompetenzzuwachs (Dijgunovitch & Vilke, 2000). Wir sind weit
davon entfernt auch nur eine dieser
Bedingungen zu erfüllen. Stotz baut
auf neue Lehrmittel
und Weiterbildung.
Für ihn liegt das Problem auf Seite der
Lehrpersonen, die hier offenbar
Unterstützung benötigten. Mit diesen Massnahmen hofft er auf einen baldigen
Stimmungs-wechsel. Bei einer Lehrmittelumfrage von Zürcher
Lehrerverbänden (SekZH et al., 2008) fielen
ausgerechnet die beiden Englischwerke
für die Unter- und Mittelstufe deutlich
durch. Gegen die geplante
Weiterbildung für Sekundarlehrpersonen erhebt sich im Kanton Zürich erbitterter
Widerstand aus Lehrerkreisen. Dazu
kommt, dass die Medien das Thema
ent-deckt und mit schonungsloser Kritik
die Öffentlichkeit wachrütteln „No murks, please:
Stoppt den
Fremdsprachenunterricht an Grundschulen“
(Kerstan, 2008) oder „Mythos
Frühförderung“ (Gut, 2009). Wenn Stotz
also seinen „begrüssenswerten“ FSFU einzig durch das Volk (immerhin!)
legitimieren kann, so weiss er auch,
dass dieses durchaus lernfähig ist.
Zu guter Letzt
versucht Stotz „die virulenten ideologischen
Aspekte dieser Diskussion“
her-vorzustreichen. Mangels Belegen für diesen Vorwurf spekuliert er
über „partikuläre Interessen“ und versteigt sich in unhaltbaren
Unterstellungen wie: „Ganz offensichtlich
geht es dem Autor, selbst
Sekundarlehrer, darum, die Verdienste des herkömmlichen Fremdsprachenunterrichts
ab der Sekundarstufe hervorzustreichen“. Ich bilde selbst
Lehrkräfte in Englisch weiter und kenne die
Herausforderungen, die sich auf dieser Stufe
stellen. Ebenfalls
weit verfehlt ist der Vorwurf, dass durch
meine Aussagen die Arbeit an der
Primarstufe entwertet würde. Wie oben
dargelegt, handelt es sich beim FSFU in
erster Linie um ein strukturelles
Problem, das weder durch die
bestmöglichen Lehrmittel noch durch ein paar
Kurse entschärft werden kann.
Rückblickend stellen
wir fest: Der Entscheid zur
Einführung von Frühfremdsprachen ist ein Experiment, das sich nicht auf
empirisch erhärtete Erfolgszahlen stützen kann.Im Gegen-teil, die meisten
Studien sind kritisch. Angesichts
dieser schwierigen Situation für die Befürworter und dem
gleichzeitigen Fehlen von kritischen
Gegenstimmen sowohl in den politischen als
auch den erziehungswissenschaftlichen Gremien stellt sich die
ernste Frage, ob bei uns überhaupt eine
unabhängige Datenerfassung
stattfinden kann. Die Verbindun-gen und
Interessenkonflikte der Aus- und
Weiterbildungsanstalten, der
Lehrmittelproduktion und der Forschung sind
offensichtlich. Wenn mir Ideologie
vorgeworfen wird, dann kann man den Spiess
auch umdrehen. Die Thematik der
Einführung von zwei Fremdsprachen auf der
Primarstufe wird so – sicherlich
unbeabsichtigt - zu einem Fallbeispiel bildungs-politischer Entscheidungsfindung.
Literatur
Abello-Contesse, C.,
Chacon-Beltran, R., Lopez-Jimenez,
M.D., Torreblanca-Lopez, M.M (eds.) (2006).
Age in L2 Acquisition and Teaching Bern:
Peter Lang.
Dijgunovitch, J.M.,
Vilke M. (2000). Eight years after; wishful
thinking or the facts of life. In
Moon, J., Nikolov, M.
(eds.). Research into teaching English to
young learners. Pecs:
University of Pecs
Press.
EDK (2004). Sprachenunterricht in der obligatorischen Schule: Strategie der EDK und Arbeitsplan für
die gesamtschweizerische Koordination. http://edudoc.ch/ record/30008/files/Sprachen_d.pdf
(zuletzt
abgerufen 30.5.09)
Enever, J. (2007).
Yet Another Early-Start Languages Policy in
Europe: Poland This
Time! Current Issues in
Language Planning, 2007, 2, 208-221.
Gut, P. (2009).
Mythos Frühförderung. Weltwoche Nr. 18/2008, 20-21.
Herzog, V. (2005).
Studien und Berichte im Rahmen der Auseinandersetzung bezüglich der
Einführung einer
zweiten Fremdsprache in der Primarschule.
Initiativkomitee Thurgau
„Eine Fremdsprache in
der Primarschule“ Frauenfeld.
Kalberer, U. (2007).
Rate of L2 Acquisition and the Influence of
Instruction Time on Achievement. Dissertation for the degree of Master of Education.
Manchester: The University of Manchester.
Kerstan, T. (2008).
No murks, please. Stoppt den Fremdsprachenunterricht
an Grund-schulen. http://www.zeit.de/2008/52/C-Seitenhieb-52 (zuletzt abgerufen
30.5.09)
Lightbown, P.M.
(2003). SLA
research in the classroom / SLA
research for the classroom. Language Learning Journal, 2003, 28, 4-13.
Nikolov, M. (ed.)
(2009). Early Learning of Modern Foreign
Languages. Bristol: Multilingual Matters.
Scovel, T (2006).
Age, acquisition, and accent. In Abello-Contesse et
al. (eds.).
SekZH, ZLV, ELK, ZKM,
LZS (2008). Lehrmittelumfrage http://zlv.napoleon.ch/auswertung
(zuletzt abgerufen 30.5.09)
Singleton, D., Ryan
L. (2004). Language acquisition: the Age
Factor. Clevedon: Multilingual Matters.
Stotz, D. (2008) Den
Übergang meistern. Babylonia 2008, 2, 66-71.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen