5. November 2014

Wes Brot ich ess, des Lied ich sing

Kritiker des frühen Fremdsprachenunterrichts wurden in unserem Land totgeschwiegen. Systematisch. Die Phalanx der PH-Forschungsstellen diskutierte nicht über Sinn und Unsinn von Primarfremdsprachen. Man beschäftigte sich mit Mehrsprachigkeitsdidaktik, schrieb (unbrauchbare) Lehrmittel und konzentrierte sich auf die Problematik des Übertritts an die Sekundarschule. Doch die jüngsten Arbeiten von Lambelet/Berthele, von Kübler und der PHTG zeigen auf, dass ein früher Fremdsprachenunterricht nicht automatisch auch ein guter sein muss. In der Schweiz erfüllen wir die Minimalbedingungen für erfolgreichen Frühfremdsprachunterricht nicht, weder in der einen, noch in der anderen Sprache. Und erst recht nicht, wenn wir beide Sprachen gleichzeitig unterrichten. 
Wie im Kanton Zürich die Primarfremdsprachen "wissenschaftlich" abgesegnet wurden, widerspricht dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit, mit welchem die Kritiker mundtot gemacht werden sollten. Besonders in der Frage der Fremdsprachen ist die Unabhängigkeit und Integrität der Forschenden zentral. Nur allzu oft galt die Maxime: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
In der Ausgabe 2/08 von Babylonia äusserte sich Daniel Stotz zur Studie von Urs Kalberer. Der Autor durfte in Babylonia 3/09 Stellung nehmen und forderte unter anderem mehr Unabhängigkeit in der Forschung. Mittlerweile sind fünf Jahre vergangen, die Forderung hat nichts von ihrer Dringlichkeit eingebüsst. (uk)


Es lohnt sich genau hinzuschauen, woher die Kritik kommt, Bild: ynovation.de

Replik zu "Den Übergang meistern", Babylonia 3/2009 S. 53-56 von Urs Kalberer



In meiner Studie (Kalberer, 2007) habe ich Testresultate von Schülern unterschiedlichen Alters und Unterrichtsdauer miteinander verglichen. Dabei ging es mir um die Überprüfung der folgenden populären Thesen zum frühen schulischen Fremdsprachenunterricht (FSFU): 1. „Jünger ist besser“ und 2. „Mehr ist besser“. Es zeigte sich dabei, dass ältere Schüler bei gleicher Lektionszahl durchwegs bessere Leistungen als jüngere Schüler erzielen. Der Ver-gleich von gleichaltrigen Kindern mit unterschiedlich langer Englisch-Ausbildung deutet an, dass die Zeitdauer des Unterrichts ein zweifelhafter Indikator für die zu erwartende Sprach-kompetenz ist. Die Resultate scheinen zu zeigen, dass Englischunterricht gegen Ende der
obligatorischen Schulzeit effizienter ist als zu Beginn. Ebenfalls zeichnet sich ab, dass eine Verteilung der Lektionen über längere Zeit (im Kanton Zürich zwei bis drei Lektionen pro
Woche während acht Schuljahren) weniger bewirkt als eine kompaktere. Ich folgere daraus, dass die hohen Erwartungen, die in den FSFU gesetzt worden sind, möglicherweise nicht
erfüllt werden können.

Ich werde im Folgenden zuerst einen Blick auf die zwischenzeitliche Entwicklung  in der Forschung werfen und diese mit meinen eigenen Schlussfolgerungen vergleichen. An-schliessend gehe ich auf einzelne Punkte von Stotz‘Artikel ein und werde zum Schluss die Argumentation von Stotz in einem grösseren Zusammenhang darstellen. Was hat sich also in der Zwischenzeit  in der Forschung getan?

Generell Vorteile für ältere Schüler
Wenn wir die aktuell zur Verfügung stehenden Daten zum frühen schulischen Fremd-sprachenlernen überblicken, dann fällt eines auf: Die Situation für die Befürworter sieht alles andere als beruhigend aus (Singleton, 2004). In jüngster Zeit hat sich die Datenlage noch zugespitzt: Vergleichsstudien aus Spanien zeigen, dass „sich der Entscheid zur Vorver-legung des Fremdsprachenunterrichts  als ungerechtfertigt erwiesen hat …“ (Abello-Contesse, 2006: 17). Besonders erwähnenswert gilt hier auch die Meinung einer beken-nenden Befürworterin des FSFU (Nikolov, 2009: 98). Sie kann in ihrer Studie nur eine schwache Korrelation zwischen frühem (und entsprechend längerem) Unterricht und der Testleistung gegenüber Spätstartern feststellen. Dies gilt für alle untersuchten Fertigkeiten
(Hören, Lesen und Schreiben). Ihre Daten scheinen also, wie sie selbst schreibt (Nikolov, 2009: 99), die Effizienz des FSFU in Zweifel zu ziehen. Speziell überrascht hat sie die
schwache Leistung im Hörverstehen. Besonders Frühlernern hat man in diesem rezeptiven Bereich Vorteile zu geschrieben. In der Fachwelt bestreitet in der Zwischenzeit niemand mehr ernsthaft die Überlegenheit des älteren Lerners. Die vorhandenen Daten sprechen eine deutliche Sprache, bis heute warten wir auf Studien, insbesondere  aus der Schweiz, welche den langfristigen Nutzen des Experiments des frühen schulischen Fremdsprachen-lernens aufzeigen. Ungeachtet dieser wackligen Argumentationsbasis wird bei uns der bildungspolitische Fahrplan weiterverfolgt, begleitet von Gutachten, die seltsamerweise
noch nie die Grundsatzfrage: „Was bringt es?“, untersucht haben. Nach wie vor ist deshalb die erfolgte Einführung von Frühfremdsprachen nicht mit pädagogischen Argumenten zu
rechtfertigen.

Wenn wir die aktuelle Datenlage mit meinen ursprünglich gemachten Aussagen vergleichen, so stellen wir weitgehende Übereinstimmungen fest. Die Anwendung der These „Je früher desto besser“ auf das schulische Lernumfeld entpuppt sich als eine grobe
Fehlinterpretation (Abello-Contesse, 2006), Scovel (2006: 43) spricht von einem Mythos. Unter den gegebenen Bedingungen ist es unwahrscheinlich, dass ein früher Start zu bes-seren Leistungen führen wird. So bemerkt auch Nikolov (2009: 100), dass der Einfluss der wöchentlichen Lektionszahl auf die Leistung stärker ist als die Anzahl der Unterrichtsjahre.

Mangelnde Wissenschaftlichkeit?
In seinem Artikel geht nun Stotz nicht etwa auf die relevanten Punkte ein, sondern be-schränkt sich auf eine Methodenkritik meiner Studie. Insbesondere wird die Auswahl der
Samples („…die Zusammensetzung des Samples geben jedoch Anlass zu Fragen und Einwänden“) kritisiert. Da zum Zeitpunkt der Studie schweizweit keine anderen Samples zur Verfügung standen, ist es müssig, andere Samples einfordern zu wollen. Ausserdem scheint Stotz für Forschungszwecke auf klinisch irrealen Voraussetzungen zu beharren. Seit der fehlgeschlagenen Harmonisierung im Fremdsprachenunterricht, die es den Kantonen erlaubt, den Fremdsprachenunterricht mit einer Landessprache oder mit Englisch zu beginnen, werden uneinheitliche Samples zum Schulalltag gehören. Da auch in der Frage der Lehrmittel keine Einheit in Aussicht ist, wird auch die methodische Vielfalt zu den Merkmalen der schweizerischen Lehrgänge gehören. Es ist darum fragwürdig, hier
homogene Lerngruppen einzufordern, ganz einfach, weil es diese auch im Schulalltag nicht geben wird.

Ein erfolgreicher Sprachunterricht hängt von ganz vielen verschiedenen Faktoren ab. Zu erwähnen sind hier beispielsweise die Sprachkompetenz der Lehrperson, das sozio-kulturelle Milieu des Schülers, die angewandte Lehrmethode und die Motivation des Schülers. Alle diese Teilaspekte beeinflussen den Lernerfolg, sind jedoch schwierig zu kontrollieren, da sie unterschiedlich ausgeprägt sind und sich gegenseitig verstärken oder
neutralisieren können. Gewiss haben unterschiedliche methodische Konzepte ihren Ein-fluss. Im Unterschied zum Alter sind sie jedoch individuell stark unterschiedlich ausgeprägt. Was fürs eine Kind vorteilhaft ist, kann für ein anderes den Lernprozess bremsen. Unab-hängig von diesen Faktoren handelt es sich nun aber beim Alter um einen Faktor, der eine andere Qualität aufweist. Der Sammelbegriff „Alter“ vereinigt ein Bündel von Faktoren,
welches einen gleichgerichtet positiven Einfluss auf den Lernerfolg hat. Die kognitive Entwicklung schreitet mit zunehmendem Alter voran. Damit verbunden ist die sozio-kognitive Kompetenz und ganz allgemein das Weltwissen. Ebenfalls weiterentwickelt ist die Kompetenz in der Erstsprache. Im Unterschied zu den oben erwähnten Faktoren, die individuell stark differieren, haben wir es beim Alter mit einem Phänomen zu tun, das
durchwegs positiv mit dem Lernerfolg korreliert. So können Jugendliche lernhindernde Faktoren (z.B. eine ungeeignete Methode) durch eigene Bemühungen kompensieren – ein
Mittel zu dem junge Primarschüler noch nicht fähig sind. Deshalb kann die Forderung nach der Berücksichtigung einer bestimmten Lernmethode nicht gleichberechtigt neben dem viel
grundsätzlicheren Merkmal des Alters stehen. Stotz‘Urteil „Der wohl gröbste Makel in der Wissenschaftlichkeit der Studie geht auf die Vernachlässigung der methodisch-didaktischen Ebene des Unterrichts zurück“ ist darum nicht haltbar. 

Schauen wir uns doch dazu die veröffentlichten Vergleichsstudien etwas genauer an. Keine dieser Studien versucht auch nur ansatzweise, die verschiedenen didaktischen Konzepte
zu berücksichtigen. Unabhängig von der praktizierten Methode kommen die Vergleichs-studien dennoch zu übereinstimmenden Schlussfolgerungen: Der spärlich erteilte, frühe
schulische Fremdsprachenunterricht sei ineffizient im Vergleich zu einer später einset-zenden Förderung (Lightbown, 2003). Hier macht es sich Stotz vielleicht ein wenig zu einfach. Seine Fixierung auf Qualitätskriterien, die in der internationalen Forschung in diesem Bereich vermieden werden, lässt den Eindruck aufkommen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Das Naheliegendste wäre doch, Schlüsse aufgrund von Daten, welchen
man misstraut, durch entsprechende eigene Studien zu entkräften. Hier liegt der Ball weiterhin auf Seiten der Befürworter der Frühfremdsprachen. Der Bedarf an weiteren Daten ist jedenfalls akut, wie Enever (2007: 218) schreibt: “In summary, these … arguments for making an early start to learning languages in school continue to be based on rather thin evidence of the real gains to be made”.

Hirnforschung missverstanden
Ich weise in meiner Studie darauf hin, dass die Anwendbarkeit von neurologischen Erkenntnissen auf die Schule generell überschätzt werde. Stotz entgegnet, das Argument der neurologischen Vorteile sei „kaum je“ eingesetzt worden. Wir wissen alle, dass frühes Sprachenlernen hierzulande konstant und systematisch mit hirnbiologischen
Vorteilen in Verbindung gebracht worden ist. Ja mehr noch: Das hirnbiologische Argument war ein Pfeiler im Gesamtsprachenkonzept von 1998 und war ein entscheidender Bestandteil des Beschlusses der Plenarversammlung der EDK, die sich sogar ausdrücklich
darauf bezieht: „…frühes Sprachenlernen ist effizienter“ (EDK, 2004: 4). In der Zwischenzeit sind jedoch schwere Bedenken zur Seriosität dieses neurologischen Argumentariums
vorgebracht worden (Herzog, 2005), weshalb dieser Aspekt von den Befürwortern des FSFU notgedrungen fallengelassen wurde.


Die wirkliche Herausforderung
Ohne seine Haltung zu begründen, hält Stotz den FSFU a priori für „begrüssenswert“.
Nach Stotz ist die Erarbeitung einer soliden Wissensbasis zum FSFU eine bedauerliche Ablenkung von der wirklichen Herausforderung, die sich uns stelle, nämlich den Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe zu optimieren. Hier zeigt sich die grundsätzliche
Differenz unserer Positionen: FSFU allein reicht eben nicht aus. Eine Vorverschiebung des Fremdsprachenunterrichts ohne gleichzeitige Erhöhung der Lektionenzahl, Reduzierung der
Klassengrösse und muttersprachliche Sprachkompetenzen der Lehrpersonen bringt keinen nennenswerten Kompetenzzuwachs  (Dijgunovitch & Vilke, 2000). Wir sind weit davon entfernt auch nur eine dieser Bedingungen zu erfüllen. Stotz baut auf neue Lehrmittel
und Weiterbildung. Für ihn liegt das Problem auf Seite der Lehrpersonen, die hier offenbar Unterstützung benötigten. Mit diesen Massnahmen hofft er auf einen baldigen Stimmungs-wechsel. Bei einer Lehrmittelumfrage von Zürcher Lehrerverbänden (SekZH et al., 2008) fielen ausgerechnet die beiden  Englischwerke für die Unter- und Mittelstufe deutlich durch. Gegen die geplante Weiterbildung für Sekundarlehrpersonen erhebt sich im Kanton Zürich erbitterter Widerstand aus Lehrerkreisen. Dazu kommt, dass die Medien das Thema ent-deckt und mit schonungsloser Kritik die Öffentlichkeit wachrütteln „No murks, please:
Stoppt den Fremdsprachenunterricht an Grundschulen“ (Kerstan, 2008) oder „Mythos Frühförderung“ (Gut, 2009). Wenn Stotz also seinen „begrüssenswerten“ FSFU einzig durch das Volk (immerhin!) legitimieren kann, so weiss er auch, dass dieses durchaus lernfähig ist.

Zu guter Letzt versucht Stotz „die virulenten ideologischen Aspekte dieser Diskussion“ her-vorzustreichen. Mangels Belegen für diesen Vorwurf spekuliert er über „partikuläre Interessen“ und versteigt sich in unhaltbaren Unterstellungen wie: „Ganz offensichtlich geht es dem Autor, selbst Sekundarlehrer, darum, die Verdienste des herkömmlichen Fremdsprachenunterrichts ab der Sekundarstufe hervorzustreichen“. Ich bilde selbst Lehrkräfte in Englisch weiter und kenne die Herausforderungen, die sich auf dieser Stufe
stellen. Ebenfalls weit verfehlt ist der Vorwurf, dass durch meine Aussagen die Arbeit an der Primarstufe entwertet würde. Wie oben dargelegt, handelt es sich beim FSFU in erster Linie um ein strukturelles Problem, das weder durch die bestmöglichen Lehrmittel noch durch ein paar Kurse entschärft werden kann.


Rückblickend stellen wir fest: Der Entscheid zur Einführung von Frühfremdsprachen ist ein Experiment, das sich nicht auf empirisch erhärtete Erfolgszahlen stützen kann.Im Gegen-teil, die meisten Studien sind kritisch. Angesichts dieser schwierigen Situation für die Befürworter und dem gleichzeitigen Fehlen von kritischen Gegenstimmen sowohl in den politischen als auch den erziehungswissenschaftlichen Gremien stellt sich die ernste Frage, ob bei uns überhaupt eine unabhängige Datenerfassung stattfinden kann. Die Verbindun-gen und Interessenkonflikte der Aus- und Weiterbildungsanstalten, der Lehrmittelproduktion und der Forschung sind offensichtlich. Wenn mir Ideologie vorgeworfen wird, dann kann man den Spiess auch umdrehen. Die Thematik der Einführung von zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe  wird so – sicherlich unbeabsichtigt - zu einem Fallbeispiel bildungs-politischer Entscheidungsfindung.

Literatur
Abello-Contesse, C., Chacon-Beltran, R., Lopez-Jimenez, M.D., Torreblanca-Lopez, M.M (eds.) (2006). Age in L2 Acquisition and Teaching Bern: Peter Lang.
Dijgunovitch, J.M., Vilke M. (2000). Eight years after; wishful thinking or the facts of life. In
Moon, J., Nikolov, M. (eds.). Research into teaching English to young learners. Pecs:
University of Pecs Press.
EDK (2004). Sprachenunterricht in der obligatorischen Schule: Strategie der EDK und Arbeitsplan für die gesamtschweizerische Koordination. http://edudoc.ch/ record/30008/files/Sprachen_d.pdf (zuletzt
abgerufen 30.5.09)
Enever, J. (2007). Yet Another Early-Start Languages Policy in Europe: Poland This
Time! Current Issues in Language Planning, 2007, 2, 208-221.
Gut, P. (2009). Mythos Frühförderung. Weltwoche Nr. 18/2008, 20-21.
Herzog, V. (2005). Studien und Berichte im Rahmen der Auseinandersetzung bezüglich der
Einführung einer zweiten Fremdsprache in der Primarschule. Initiativkomitee Thurgau
„Eine Fremdsprache in der Primarschule“ Frauenfeld.
Kalberer, U. (2007). Rate of L2 Acquisition and the Influence of Instruction Time on Achievement. Dissertation for the degree of Master of Education. Manchester: The University of Manchester.
Kerstan, T. (2008). No murks, please. Stoppt den Fremdsprachenunterricht an Grund-schulen. http://www.zeit.de/2008/52/C-Seitenhieb-52 (zuletzt abgerufen 30.5.09)
Lightbown, P.M. (2003). SLA research in the classroom / SLA research for the classroom. Language Learning Journal, 2003, 28, 4-13.
Nikolov, M. (ed.) (2009). Early Learning of Modern Foreign Languages. Bristol: Multilingual Matters.
Scovel, T (2006). Age, acquisition, and accent. In Abello-Contesse et al. (eds.).
SekZH, ZLV, ELK, ZKM, LZS (2008). Lehrmittelumfrage http://zlv.napoleon.ch/auswertung (zuletzt abgerufen 30.5.09)
Singleton, D., Ryan L. (2004). Language acquisition: the Age Factor. Clevedon: Multilingual Matters.
Stotz, D. (2008) Den Übergang meistern. Babylonia 2008, 2, 66-71.





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