Im Akademisierungswahn, NZZ, 3.11. von Jenni Roth
Einfach nur besser als eine 3 sollte es sein. Am Ende war es eine 2,7. «Ganz o. k.», sagt Liliane, 18 Jahre. Schliesslich will die Berliner Abiturientin Musik studieren, da spielt die Mathe-Note keine ganz so grosse Rolle. Liliane ist eine Ausnahme. In ihrem Jahrgang (der beste, seit es die Schule gibt), aber auch deutschlandweit: Immer mehr Schüler machen Abitur, und das mit immer besseren Noten, wie die Kultusministerkonferenz bei ihrer jährlichen Auswertung herausgefunden hat. Machte vor 40 Jahren noch weniger als ein Zehntel der Schüler die Reifeprüfung, sind es jetzt im Schnitt etwa 40 Prozent. Und es gibt noch einen bundesweiten Trend, den das Land Nordrhein-Westfalen besonders gut widerspiegelt: 2006 gab es dort 421 Mal die Bestnote 1,0. Vier Jahre später waren es 763. 2012 gab es 1200 «Einser-Abis». Die Zahl der Abiturienten ist um ein Drittel gestiegen, die Durchfallquote sinkt - allerorten.
Das geschenkte Abitur
Auf den ersten Blick sind die Zahlen ein Segen: Die
Schüler freuen sich über ihre guten Noten, die Eltern auch. Die Schulen freuen
sich, weil sie in den Rankings besser dastehen. Und Politiker brüsten sich mit
ihrer offensichtlich erfolgreichen Bildungspolitik. «Natürlich beschwert sich
kein Schüler über ein geschenktes Abi», sagt Rainer Bölling, Bildungsforscher
und Autor einer «Kleinen Geschichte des Abiturs». Er warnt vor einer
Noteninflation. «Die Schüler werden nicht schlauer, die Messzahlen ändern
sich», sagt Bölling.
Schuld an der Entwicklung ist die Politik, aber
auch die Gesellschaft selbst. Weil Forderungen nach einem Aus des
dreigliedrigen Schulsystems populärer werden, bieten immer mehr Schulen das
Abitur an. Schuld ist auch das wachsende Prestige des Abiturs in der deutschen
Gesellschaft. Und nicht nur das: Ohne Abitur kommt man in Deutschland nicht
mehr weit. Denn Gymnasium, Abitur und Studium werden bei Eltern - auch in
bildungsfernen Schichten - beliebter. Immer mehr Berufe, von der Hebamme bis
zum Steuerberater, setzen ein Studium voraus. Eine hohe Abiturientenquote gilt
als Ausweis einer erfolgreichen Gesellschaft, in Talkshows fordern Politiker
mit Blick auf das Ausland mehr Abiturienten: «Frankreich hat eine Quote von 80
Prozent!» Diese Haltung setzt auch die Schulen unter Druck: Gute Noten sind
gefragt, und dabei auch noch Qualität.
Auch einschlägige Schulgesetze leisten dem Trend
Vorschub: Demnach hat jeder Schüler ein Recht auf individuelle Förderung.
Versagt er, muss der Lehrer sich für das schlechte Abschneiden rechtfertigen -
und vergibt doch lieber eine bessere Note.
Fatal sei auch das Zentralabitur, sagt Hans Peter
Klein, Professor für Biologiedidaktik an der Universität Frankfurt. Dabei
werden die Prüfungsaufgaben von einer zentralen Behörde vorbereitet. Früher
hätten die Lehrer Aufgabenvorschläge an die Schulbehörde geschickt, die dann
einen davon auswählte. Aber mit Blick auf Bayern wurde fast überall in
Deutschland das Zentralabitur eingeführt: Das sei gerechter und garantiere ein
höheres Niveau, hiess es. Aber Standardisierung heisse oft Vereinfachung, meint
Klein warnend. Den Beweis hat er in einer 11. Klasse gefunden: Er legte den
Schülern Mathe-Aufgaben aus der Analysis vor - eine aus der Zeit vor und eine
aus der Zeit nach dem Zentralabitur. Das «Zentralabi» «bestanden» alle bis auf
2, im Vergleichstest scheiterten 21 von 22.
Sie habe viel fürs «Abi» gelernt, sagt Liliane.
Aber so richtig schwierig sei es dann doch nicht gewesen. Eigentlich sogar
ziemlich leicht. Bei der Englischprüfung durfte sie ein zweisprachiges
Wörterbuch benutzen, in Physik musste sie nur in den Unterlagen die passenden
Formeln heraussuchen. Denn schon das Nachschlagen gilt als «Kompetenzwissen» -
und das schneidet im Wettbewerb mit dem Fachwissen immer besser ab. Wurde etwa
sprachliche Inkompetenz früher als Fehler angerechnet, fliesst sie heute kaum
mehr in die Bewertungen ein.
Aber nicht nur das Abitur wird leichter - auch der
Weg dorthin: Während es aufgrund der demografischen Entwicklung immer weniger
Schüler und damit Schulen gibt, gibt es immer mehr Gymnasiasten. Zudem führt
immer öfter der Weg über eine Gesamt- oder Berufsschule zum Studium. «Ein
grosser Gewinn für die Durchlässigkeit», sagt Axel Plünnecke, Bildungsexperte
am Kölner Institut der deutschen Wirtschaft. «Die Studentenschaft ist viel
heterogener und vielfältiger geworden.» Doch ist es tatsächlich so einfach?
Sieht man das Abitur als Menschenrecht, auf das jeder ein Anrecht hat, der sich
bemüht - dann geht die Rechnung auf. Wer grosszügig «Einser-Abis» verteilt,
macht sich zudem nicht der Elitenförderung schuldig. Doch bringt eine
solchermassen verstandene «soziale Gerechtigkeit» ein Land weiter?
Eine hohe Abiturientenquote verspricht nicht
unbedingt eine florierende Volkswirtschaft. Rainer Bölling hat den Zusammenhang
zwischen Abitur und Jugendarbeitslosenquote in Österreich, der Schweiz,
Deutschland, Frankreich und Italien untersucht und stellt fest: «Je höher die
Abiturquote, desto höher die Arbeitslosigkeit. Es ist deprimierend», sagt
Bölling. «Man müsste diesen Akademisierungswahn stoppen.» Er fürchtet, dass das
Abitur zum neuen Hauptschulabschluss wird - und dass dabei vergessen wird, wie
sehr das deutsche duale System in aller Welt bewundert wird. Erst 2013 lobte es
der US-Präsident Obama in seiner State-of-the-Union-Rede.
Das System schlägt zurück - oft schon an den Toren
zur Universität: Nach einer Studie des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung hinken die Mathe-Leistungen bei Studienanfängern oft um
ein halbes Schuljahr hinterher, um die Leseleistungen ist es noch schlechter
bestellt. Selbst Mathe-Erstsemester besuchen Stützkurse in Mathe, ein Drittel
aller Bachelor-Studenten bricht das Studium ab. Plünnecke findet das nicht
dramatisch: «Da müssen die Universitäten neue Aufgaben übernehmen. Dafür haben
die jungen Leute ein grösseres interkulturelles Wissen und mehr
Praxiserfahrung.» Nur: Wenn die Hochschulen die Aufgaben der Schulen übernehmen
sollen - wer zahlt?
Düstere Aussichten
Die Leistungsanforderungen sinken überall - weshalb
die Absolventen unter grösserem Druck stehen: Jedes zweite Bachelor-Studium ist
mit einem Numerus clausus belegt, an manchen Universitäten bewerben sich mehr
Absolventen mit einem 1,0-Schnitt, als es Studienplätze gibt. Wie lässt sich
das Rad zurückdrehen? Erst einmal, sagt Bölling, müsste man das Rad anhalten:
2017 soll es nicht nur innerhalb der Länder, sondern länderübergreifend ein
vergleichbares Abitur geben. Was das für den Notenschnitt bedeuten kann, will
sich der Bildungsforscher gar nicht ausmalen.
Man könnte das Zentralabitur infrage stellen. Nur:
Politisch ist das schwierig, auch weil die Reglementierung der Schulwahl
anrüchig ist. Denkbar wären getrennte Noten für Kompetenz und für Fachwissen,
sagt Plünnecke, oder den Numerus clausus durch Zugangsprüfungen zu ersetzen.
Aber egal welcher Lösungsansatz: «Am System rütteln kann man nur, wenn die
Leute nicht mehr denken: Nur wer studiert, ist was», sagt Bölling. Und: «Ich
fürchte, wir müssen ganz unten anfangen, das Problem erst mal öffentlich
diskutieren.» Unter den Schülern ist es längst so weit: In Internetforen
tauschen sie sich über ihre Prüfungen aus und fordern sogar selbst, die
Abiturientenflut zu stoppen. Liliane freut sich derweil auf ihr Musikstudium,
bei dem nicht der Notenschnitt zählt, sondern das Talent.
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