Das Berufswahlkunde-Modell nach Schmid. Bild: S&B Institut
Berufswahl muss reifen, Ein neues Kapitel, Worlddidac Verband, von Beat Jost
didacta: Als
Berufswahlcoach begleiten Sie viele junge Menschen auf der Suche nach dem
richtigen Beruf. Warum brechen so viele Jugendliche ihre erste Ausbildung ab,
was läuft da schief?
Reinhard Schmid: Dazu gibt es vielschichte Gründe. Es ist eine enorme emotionale
und geistige Herausforderung, in dieser komplexen Bildungs- und Arbeitswelt
einen guten Einstieg zu finden. Die Jugendlichen sind mitten in ihrer
Identitätsfindung und sollen sich dabei beruflich festlegen, obwohl sie wissen,
dass es den Beruf fürs Leben nicht gibt. Hinzu kommt, dass viele berufliche Grundbildungen
anspruchsvoller sind als der Besuch eines Gymnasiums. Viele Eltern kennen das
duale Bildungssystem zu wenig, um ihre Kinder zu fördern. Manche erste
Berufswahl erfolgt wenig reflektiert. Erschwerend sind auch der „Kampf“ um die
Jugendlichen, die mangelnde interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie das Fehlen
eines nationalen Berufswahlkonzepts.
Aber es wird
doch schon viel getan.
Den Eindruck könnte man bekommen. Aber schaut man genau hin, zielt der grosse
Teil der Massnahmen auf Informationen über die Berufswelt oder Leistungsmessung
und Matchings auf die Berufsausbildungen. Dies ist zwar notwendig, aber wichtiger wäre die
Sensibilisierung von Eltern und Jugendlichen, die Ich-Bildung mit Selbstbild
und Fremdbild, die Ausbildungsanalyse, die praktische Ausbildungs- und
Berufserkundung und schlussendlich Realisierung.
Gibt es
weitere Gründe, etwa dass die Lehrpersonen zu wenig gut auf diese Aufgabe
vorbereitet sind?
Das lässt sich nicht verallgemeinern. Ich begegne Lehrpersonen und Schulleitungen,
die diese Aufgabe sehr ernst nehmen und alles Erdenkliche unternehmen, um die
Jugendlichen im Berufswahlprozess zu motivieren. Ich bin beeindruckt, wie ganze
Schulhäuser als Teams wirken und an Weiterbildungstagen teilnehmen. Auch lassen sich zunehmend
Lehrpersonen an der Fachhochschule Nordwestschweiz oder der Pädagogischen Hochschule Thurgau
zum Berufswahl-Coach ausbilden. Es ist also viel guter Wille vorhanden aber
noch wenig Koordination und Effizienz in der Umsetzung. Handlungsbedarf sehe
ich in der Ausbildung der Lehrpersonen. Diese ist ungenügend und zu wenig praxisorientiert. Der Berufswahlunterricht unterscheidet
sich grundlegend von der Stoffvermittlung anderer Fächer. Berufswahlcoaching hat
sehr viel mit Förderung der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen zu tun
und dies bedingt eine besondere pädagogische Haltung.
Misst der
Lehrplan dem Thema Berufswahl überhaupt genügend Bedeutung zu?
Mit der Aufnahme in den Lehrplan 21 und dem Festlegen von einer – wenn auch
kümmerlichen – Stundenzahl von 39 Stunden ist die Berufswahl erstmals in einem
nationalen Lehrplan erwähnt, soweit das Positive. Allerdings verkennen die nationalen Lehrplanautoren,
welche Bedeutung einem reflektierten und bewussten Übergang von der Sek I zur
Sek II zukommt: zur Behebung des Fachkräftemangels, zur Verhinderung unnötiger Brückenangebotsbesuche, Irrläufe
im Bildungsdschungel oder zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit.
Das ist aber
ein happiger Vorwurf an die Lehrplanautoren in diesem Fachbereich. Wie kommen
Sie darauf?
Den Berufswahlunterricht den fächerübergreifenden Themen zuzuordnen und den
Namen „Berufliche Orientierung“ finde ich falsch. Wer die Realität in Schulen und
Betrieben kennt, und diversen Studien verfolgt, wird zustimmen. Die Bildungs-
und Berufswahl muss verbindlicher im
Lehrplan 21 verankert werden. Als eigenständiger Fachbereich muss sie mit
mindestens 60 bis 90 Stunden, über alle drei Oberstufenjahre hinweg, von speziell
ausgebildeten Lehrpersonen mit praxistauglichen Lehrmitteln erteilt werden. Die
Verantwortlichen des Lehrplan 21 widersprechen ihren Vorgaben selbst, wenn sie
im Entwurf festhalten: „Die Bildungs- und Berufswahl ist ein komplexer Prozess …“. Wo bleibt da der Mut zu konkreten und
verbindlicheren Empfehlungen?
Sie finden den
Haupttitel für diesen Fachbereich falsch, warum?
„Berufliche Orientierung“ impliziert, dass es lediglich um eine
Informationsvermittlung gehe und engt total ein. Man kann daraus schliessen,
das Fach betreffe nur Jugendliche, die eine berufliche Grundbildung ins Auge
fassen. Aber auch wer ein Gymnasium oder eine weiterführende Schule als Option
prüft, muss diese Wahl reflektiert treffen und sich mit Alternativen auseinandersetzen.
Die Abbrüche an den weiterführenden Schulen sind ebenso zahlreich und viele
Maturanden tun sich schwer mit der Studienwahl. Jeder zweite Gymnasiast kommt
zu keinem Universitätsabschluss. Die Forderung „Berufswahlunterricht für alle
Jugendlichen“ steht schon lange im Raum. Darum schlage ich vor, dass der Begriff „Bildungs- und Berufswahl“ zum Haupttitel
wird, Berufswahl ist immer auch Bildungswahl und umgekehrt.
Welche
Bedingungen braucht es, um einen griffigen Bildungs- und Berufswahlunterricht im
Lehrplan 21 und schliesslich in unseren Schulen zu etablieren?
Zuerst braucht es die Erkenntnis und den politischen Willen, dass
Berufswahl- und
Laufbahncoaching in einer multikulturellen und globalisierten Welt eine Notwendigkeit zur
Erhaltung unserer volkswirtschaftlichen Wohlfahrt sind. Dann sollen die
vorhandenen öffentlichen Gelder für Massnahmen eingesetzt werden, die
unmittelbar den Jugendlichen zukommen. Wir müssen endlich in die Prävention
investieren. Das heisst, eine gute Aus- und Weiterbildung der Lehr- und
Beratungspersonen in angewandter Pädagogik,
die Anwendung bestehender Best-Practice Lehrmittel, mindestens eine Wochenlektion und eine klare und
verbindliche Rollenteilung zwischen den Akteuren.
Sie selbst
haben sich für zwei Berufe entschieden, einerseits leiten Sie das S&B
Institut für Berufs- und Lebensgestaltung, andererseits sind Sie selbstkelternder Winzer im Wallis. Wie
bringen Sie diese unterschiedlichen Tätigkeiten unter einen Hut?
So gegensätzlich sind diese Tätigkeiten gar nicht. Ich bin in den
schönsten Berufen überhaupt tätig. Beide verlangen Geduld und Respekt und haben
mit Coaching, also mit Begleiten zu tun. Ich praktiziere diese Tätigkeiten
leidenschaftlich gerne und konsequent,
bis ein zufriedener Mensch oder ein wunderbarer Wein vor mir steht. Mit meiner
Familie und meinem Team habe ich eine motivierte und tatkräftige Truppe, die
mir den Rücken frei hält, damit ich meine Kernaufgaben erledigen kann.
Offenbar gibt
es Synergien. Welche Ihrer Tätigkeiten profitiert von der anderen stärker?
Der Nutzen ist gegenseitig. Durch die Seitenwechsel profi tieren
schlussendlich alle meine Produkte. Nur mit Geduld für das Wachstum bis zur
Reife, breitem theoretischem Wissen und herzhaftem praktischem Tun sind erfolgreiche Ergebnisse möglich.
Was ist das
Besondere an Ihrem Berufswahl-Portfolio, das Sie für die Jugendlichen entwickelt haben?
Das Berufswahl-Portfolio ist ein Medienverbund für den
Berufswahlunterricht von Jugendlichen vor ihrer ersten Berufswahl, unabhängig
davon, ob es um eine weiterführende Schule oder um eine berufliche Grundbildung
geht. Die Jugendlichen bearbeiten darin während der Sek I diverse Aufgaben, die
sie zur Selbstreflexion und Analyse von diversen Ausbildungswegen anregen, um
bewusst und selbstständig die Berufswahl
anzupacken. Unterstützt werden sie dabei von ihren Berufswahlbegleitern: Die Lehrpersonen
sensibilisieren und informieren die Eltern und erteilen Berufswahlunterricht im
Rahmen des Berufswahlfahrplans der Schule. Berufsberater und Case Manager
unterstützen Eltern und Jugendliche bei Bedarf mit Einzelgesprächen. Ausbilder
zeigen Berufsbilder und ermöglichen Berufsbesichtigungen, -orientierungen und
Schnupperlehren.
2008 gewannen
Sie für das erste Berufswahl-Portfolio den Worlddidac Award, später eine
Auszeichnung für das Laufbahn-Portfolio, um nur zwei zu nennen. Woher nehmen
Sie Ihre Energie und die Inspiration?
Wenn Arbeit Spass macht, dann läuft sie leichter von der Hand und es
lässt sich auch leichter nachdenken. Für mich war und ist Arbeit immer positiv
besetzt, auch wenn die Umstände manchmal widrig erscheinen. Mit der Überzeugung, etwas Nützliches zu tun, und der
damit verbundenen Anerkennung und Wertschätzung, können wir Berge versetzen.
Was nehmen Sie
sich für die Zukunft vor?
Die Berufs- und Bildungswahl beim Übergang von Sek I zu Sek II ist ein subtiler
Entscheidungsprozess, zu dem Jugendliche in Begleitung und Verantwortung ihrer Eltern, aber unter der klaren Anleitung
und Kontrolle der Schule geführt werden müssen. Ich bin überzeugt, dass die Bildungsverantwortlichen
die hier aufgezeigten Korrekturen vornehmen
werden, unabhängig vom Lehrplan 21. Je früher dies geschieht, desto besser. Sanfte Korrekturen
verhindern die Zunahme von Bürokratie und bringen die grössten
Kostenersparnisse bei gleichzeitiger Investition in die Jugend und damit in die
Zukunft unseres Landes. Dafür werde ich mich weiterhin einsetzen.
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