30. Oktober 2014

Bildungs- und Berufswahlkunde auch für Gymnasiasten

Der Lehrmittelautor und Berufswahlberater Reinhard Schmid fordert, dass der Berufskunde-Unterricht auch auf die Gymnasien ausgebaut wird. Gleichzeitig kritisiert Schmid die Ausbildung der Lehrpersonen.
Das Berufswahlkunde-Modell nach Schmid. Bild: S&B Institut
Berufswahl muss reifen, Ein neues Kapitel, Worlddidac Verband, von Beat Jost


didacta: Als Berufswahlcoach begleiten Sie viele junge Menschen auf der Suche nach dem richtigen Beruf. Warum brechen so viele Jugendliche ihre erste Ausbildung ab, was läuft da schief?
Reinhard Schmid: Dazu gibt es vielschichte Gründe. Es ist eine enorme emotionale und geistige Herausforderung, in dieser komplexen Bildungs- und Arbeitswelt einen guten Einstieg zu finden. Die Jugendlichen sind mitten in ihrer Identitätsfindung und sollen sich dabei beruflich festlegen, obwohl sie wissen, dass es den Beruf fürs Leben nicht gibt. Hinzu kommt, dass viele berufliche Grundbildungen anspruchsvoller sind als der Besuch eines Gymnasiums. Viele Eltern kennen das duale Bildungssystem zu wenig, um ihre Kinder zu fördern. Manche erste Berufswahl erfolgt wenig reflektiert. Erschwerend sind auch der „Kampf“ um die Jugendlichen, die mangelnde interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie das Fehlen eines nationalen Berufswahlkonzepts.
Aber es wird doch schon viel getan.
Den Eindruck könnte man bekommen. Aber schaut man genau hin, zielt der grosse Teil der Massnahmen auf Informationen über die Berufswelt oder Leistungsmessung und Matchings auf die Berufsausbildungen. Dies ist zwar notwendig, aber wichtiger wäre die Sensibilisierung von Eltern und Jugendlichen, die Ich-Bildung mit Selbstbild und Fremdbild, die Ausbildungsanalyse, die praktische Ausbildungs- und Berufserkundung und schlussendlich Realisierung.
Gibt es weitere Gründe, etwa dass die Lehrpersonen zu wenig gut auf diese Aufgabe vorbereitet sind?
Das lässt sich nicht verallgemeinern. Ich begegne Lehrpersonen und Schulleitungen, die diese Aufgabe sehr ernst nehmen und alles Erdenkliche unternehmen, um die Jugendlichen im Berufswahlprozess zu motivieren. Ich bin beeindruckt, wie ganze Schulhäuser als Teams wirken und an Weiterbildungstagen  teilnehmen. Auch lassen sich zunehmend Lehrpersonen an der Fachhochschule Nordwestschweiz oder der Pädagogischen Hochschule Thurgau zum Berufswahl-Coach ausbilden. Es ist also viel guter Wille vorhanden aber noch wenig Koordination und Effizienz in der Umsetzung. Handlungsbedarf sehe ich in der Ausbildung der Lehrpersonen. Diese ist ungenügend und zu wenig praxisorientiert. Der Berufswahlunterricht unterscheidet sich grundlegend von der Stoffvermittlung anderer Fächer. Berufswahlcoaching hat sehr viel mit Förderung der Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen zu tun und dies bedingt eine besondere pädagogische Haltung.
Misst der Lehrplan dem Thema Berufswahl überhaupt genügend Bedeutung zu?  
Mit der Aufnahme in den Lehrplan 21 und dem Festlegen von einer – wenn auch kümmerlichen – Stundenzahl von 39 Stunden ist die Berufswahl erstmals in einem nationalen Lehrplan erwähnt, soweit das Positive. Allerdings verkennen die nationalen Lehrplanautoren, welche Bedeutung einem reflektierten und bewussten Übergang von der Sek I zur Sek II zukommt: zur Behebung des Fachkräftemangels, zur Verhinderung unnötiger Brückenangebotsbesuche, Irrläufe im Bildungsdschungel oder zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit.
Das ist aber ein happiger Vorwurf an die Lehrplanautoren in diesem Fachbereich. Wie kommen Sie darauf?
Den Berufswahlunterricht den fächerübergreifenden Themen zuzuordnen und den Namen „Berufliche Orientierung“ finde ich falsch. Wer die Realität in Schulen und Betrieben kennt, und diversen Studien verfolgt, wird zustimmen. Die Bildungs- und Berufswahl muss verbindlicher  im Lehrplan 21 verankert werden. Als eigenständiger Fachbereich muss sie mit mindestens 60 bis 90 Stunden, über alle drei Oberstufenjahre hinweg, von speziell ausgebildeten Lehrpersonen mit praxistauglichen Lehrmitteln erteilt werden. Die Verantwortlichen des Lehrplan 21 widersprechen ihren Vorgaben selbst, wenn sie im Entwurf festhalten: „Die Bildungs- und Berufswahl ist ein komplexer Prozess …“. Wo bleibt da der Mut zu konkreten und verbindlicheren Empfehlungen?
Sie finden den Haupttitel für diesen Fachbereich falsch, warum?
„Berufliche Orientierung“ impliziert, dass es lediglich um eine Informationsvermittlung gehe und engt total ein. Man kann daraus schliessen, das Fach betreffe nur Jugendliche, die eine berufliche Grundbildung ins Auge fassen. Aber auch wer ein Gymnasium oder eine weiterführende Schule als Option prüft, muss diese Wahl reflektiert treffen und sich mit Alternativen auseinandersetzen. Die Abbrüche an den weiterführenden Schulen sind ebenso zahlreich und viele Maturanden tun sich schwer mit der Studienwahl. Jeder zweite Gymnasiast kommt zu keinem Universitätsabschluss. Die Forderung „Berufswahlunterricht für alle Jugendlichen“ steht schon lange im Raum. Darum schlage ich vor, dass der Begriff „Bildungs- und Berufswahl“ zum Haupttitel wird, Berufswahl ist immer auch Bildungswahl und umgekehrt.
Welche Bedingungen braucht es, um einen griffigen Bildungs- und Berufswahlunterricht im Lehrplan 21 und schliesslich in unseren Schulen zu etablieren?
Zuerst braucht es die Erkenntnis und den politischen Willen, dass Berufswahl- und
Laufbahncoaching in einer multikulturellen  und globalisierten Welt eine Notwendigkeit zur Erhaltung unserer volkswirtschaftlichen Wohlfahrt sind. Dann sollen die vorhandenen öffentlichen Gelder für Massnahmen eingesetzt werden, die unmittelbar den Jugendlichen zukommen. Wir müssen endlich in die Prävention investieren. Das heisst, eine gute Aus- und Weiterbildung der Lehr- und Beratungspersonen  in angewandter Pädagogik, die Anwendung bestehender Best-Practice Lehrmittel, mindestens eine Wochenlektion und eine klare und verbindliche Rollenteilung zwischen den Akteuren.
Sie selbst haben sich für zwei Berufe entschieden, einerseits leiten Sie das S&B Institut für Berufs- und Lebensgestaltung, andererseits  sind Sie selbstkelternder Winzer im Wallis. Wie bringen Sie diese unterschiedlichen Tätigkeiten unter einen Hut?
So gegensätzlich sind diese Tätigkeiten gar nicht. Ich bin in den schönsten Berufen überhaupt tätig. Beide verlangen Geduld und Respekt und haben mit Coaching, also mit Begleiten zu tun. Ich praktiziere diese Tätigkeiten leidenschaftlich  gerne und konsequent, bis ein zufriedener Mensch oder ein wunderbarer Wein vor mir steht. Mit meiner Familie und meinem Team habe ich eine motivierte und tatkräftige Truppe, die mir den Rücken frei hält, damit ich meine Kernaufgaben erledigen kann.
Offenbar gibt es Synergien. Welche Ihrer Tätigkeiten profitiert von der anderen stärker?
Der Nutzen ist gegenseitig. Durch die Seitenwechsel profi tieren schlussendlich alle meine Produkte. Nur mit Geduld für das Wachstum bis zur Reife, breitem theoretischem Wissen und herzhaftem praktischem Tun sind erfolgreiche Ergebnisse  möglich.
Was ist das Besondere an Ihrem Berufswahl-Portfolio, das Sie für die Jugendlichen  entwickelt haben?
Das Berufswahl-Portfolio ist ein Medienverbund für den Berufswahlunterricht von Jugendlichen vor ihrer ersten Berufswahl, unabhängig davon, ob es um eine weiterführende Schule oder um eine berufliche Grundbildung geht. Die Jugendlichen bearbeiten darin während der Sek I diverse Aufgaben, die sie zur Selbstreflexion und Analyse von diversen Ausbildungswegen anregen, um bewusst  und selbstständig die Berufswahl anzupacken. Unterstützt werden sie dabei von ihren Berufswahlbegleitern: Die Lehrpersonen sensibilisieren und informieren die Eltern und erteilen Berufswahlunterricht im Rahmen des Berufswahlfahrplans der Schule. Berufsberater und Case Manager unterstützen Eltern und Jugendliche bei Bedarf mit Einzelgesprächen. Ausbilder zeigen Berufsbilder und ermöglichen Berufsbesichtigungen, -orientierungen und Schnupperlehren.
2008 gewannen Sie für das erste Berufswahl-Portfolio den Worlddidac Award, später eine Auszeichnung für das Laufbahn-Portfolio, um nur zwei zu nennen. Woher nehmen Sie Ihre Energie und die Inspiration?
Wenn Arbeit Spass macht, dann läuft sie leichter von der Hand und es lässt sich auch leichter nachdenken. Für mich war und ist Arbeit immer positiv besetzt, auch wenn die Umstände manchmal widrig erscheinen. Mit der Überzeugung, etwas Nützliches zu tun, und der damit verbundenen Anerkennung und Wertschätzung, können wir Berge versetzen.
Was nehmen Sie sich für die Zukunft vor?
Die Berufs- und Bildungswahl beim Übergang von Sek I zu Sek II ist ein subtiler Entscheidungsprozess, zu dem Jugendliche in Begleitung und Verantwortung  ihrer Eltern, aber unter der klaren Anleitung und Kontrolle der Schule geführt werden müssen. Ich bin überzeugt, dass die Bildungsverantwortlichen  die hier aufgezeigten Korrekturen vornehmen werden, unabhängig vom Lehrplan 21. Je früher dies geschieht, desto besser. Sanfte Korrekturen verhindern die Zunahme von Bürokratie und bringen die grössten Kostenersparnisse bei gleichzeitiger Investition in die Jugend und damit in die Zukunft unseres Landes. Dafür werde ich mich weiterhin einsetzen.

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