17. September 2014

Posttraumatisches Frühfranzösisch

Andreas Thiel macht sich Gedanken, wie die Sprache zunehmend durch Sprachkompetenz ersetzt wird.


Sie erfahren, was die Mafia, Brüssel und die Kinderkrippen mit unseren Frühfremdsprachen zu tun haben, Bild: Nebenspalter

Posttraumatisches Frühfranzösisch, Nebelspalter, 9.9. von Andreas Thiel


Das Französisch, das im Thurgau gesprochen wurde, war den Romands schon lange ein Dorn im Ohr. Die grellen Vokale der Ostschweizer staken wie Stachel in der weichen Sprache der Welschen. Dies mochte die Westschweiz nicht mehr länger ertragen. Deshalb haben sich die französischsprachigen Kantone verbündet, um gemeinsam Druck auf die Thurgauer Bildungsbehörden auszuüben und diese zu zwingen, das Französisch aus den Lehrplänen zu streichen. Stattdessen wird an Thurgauer Schulen in Zukunft Italienisch unterrichtet. Denn mindestens eine zweite Landessprache sollen auch Thurgauer lernen. Und für Tessiner klingen die offenen Ostschweizer Vokale wie schönstes Kalabresisch, weshalb sich auch die N'drangheta im Thurgau wohl fühlt.

Auch in anderen Kantonen wurde Französisch als Schulfach abgeschafft, wenn auch aus anderen Gründen. In Zürich lernen die Schüler nicht mehr Französisch als Sprache, sondern sie lernen, sich eigenständig die Kompetenzen anzueignen, deren Erwerb Voraussetzung ist, um Französisch lernen zu können. Auf Nachfragen hin zum Erfolg dieser Methode lässt die Zürcher Bildungsdirektion verlauten, die Forscher seien noch nicht in der Lage, genaue Auswertungen vorzunehmen, da die Messmethoden noch in Kinderschuhen steckten, aber die Kinder wirkten dafür umso kompetenter.

Der Kanton Bern ging noch einen Schritt weiter und ersetzte den Französischunterricht durch das Fach Umweltkompetenz. Die Welschschweiz spielt inhaltlich im Unterrichtsstoff nach wie vor eine zentrale Rolle, und zwar als schlechtes Beispiel. Auch in Graubünden wollte man das Unterrichtsfach Französisch aus den Schulzimmern verbannen, musste dann aber feststellen, dass es offensichtlich gar nie eingeführt worden war. Und die Appenzeller müssen sogar erst mal eine Schule bauen, um dann den Französischunterricht darin abschaffen zu können. Die Walliser wiederum überlegen sich, den Deutschunterricht zu streichen, da dieser bei Wallisern offensichtlich nichts nützt. In Basel denkt man über eine Fusion der beiden Fächer Deutsch und Französisch nach. Es herrscht ein breiter Konsens darüber, dass es von grossem Vorteil wäre, Dinge deutsch und deutlich sagen zu können, und zwar so, dass es auch die Franzosen verstehen. Ein ZürcherVorstoss mit dem Anliegen, das Französisch auch in der Westschweiz abzuschaffen, um für Deutschschweizer Austauschschüler das Welschjahr attraktiver zu gestalten, traf auf heftigen Widerstand seitens der Westschweiz, was die Zürcher allerdings nicht verstanden, weil sie zwar die unterdessen eindeutig messbaren Kom­petenzen vorweisen, Französisch lernen zu können, es aber nie gelernt haben.

Der Bundesrat enthält sich einer eindeutigen Stellungnahme, um die laufende Diskussion nicht zu beeinflussen, droht aber damit, im Falle einer ausbleibenden raschen Einigung hart durchzugreifen, und zwar indem er dort nachgibt, wo am meisten Druck auf ihn ausgeübt würde. Dass sich Brüssel eingeschaltet und via Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte den schweizerischen Aussenminister Didier Burkhalter damit beauftragt hat, dafür zu sorgen, dass alle europäischen Landessprachen an Schweizer Schulen gleichberechtigt behandelt würden, trug ausnahmsweise zur Konsensbildung bei. Am Ende des Sprachenstreits beschloss man, jegliche Diskriminierung von Sprachen an Schulen generell zu verbieten und zum Ausgleich zwischen den Sprachregionen alle Unterrichtssprachen gleichberechtigt abzuschaffen, um künftig nur noch die Voraussetzungen für Sprache zu unterrichten bzw. die Kompetenz zum Spracherwerb zu fördern in der Hoffnung, die Schüler dazu motivieren zu können, irgendwann mal selber eine Sprache zu lernen.

Doch bereits droht der nächste Sprachenstreit an, weil die Thurgauer gemerkt haben, dass kleine Kinder zuerst gutturale und somit französische Laute von sich geben und erst später lernen, klare, helle Vokale zu formen, was sie als Diskriminierung der Ostschweizer Dialekte betrachten. Thurgauer Bildungspolitiker fordern nun eine Frühförderung des Bildens greller Vokale bereits in den Kinderkrippen. Andernfalls würde als Gegenmassnahme der Unterricht in Frühfranzösisch mit Thurgauer Akzent wieder eingeführt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen