Bildungsreformen: Viel Geld - wenig Wirkung, Bild: Abendblatt.de
Versuchslabor Volksschule, NZZ, 26.7. von Lucien Scherrer
Schulen, die
etwas auf sich halten, setzen derzeit auf «selbstorganisiertes» und
«altersdurchmischtes» Lernen. Sie schaffen Jahrgangsklassen und
Frontalunterricht ab. Stattdessen lernen die Schüler selbständig, begleitet von
älteren Kameraden und einem «Coach», den man einst «Lehrer» nannte. Liest man
die offiziellen Verlautbarungen, sind derart individualisierte Lernformen ein
durchschlagender Erfolg. Sie geben die einzig richtige Antwort auf die
Herausforderungen einer zunehmend heterogenen Gesellschaft. Die Kinder, so
verkünden Schulleiter, Erziehungswissenschafter, Bildungsbeamte und
Hochschulpädagogen unentwegt, werden sozialer, selbständiger und toleranter,
die Gesellschaft durchlässiger und gerechter.
Nur gibt es
da ein kleines Problem. Alternative Lernformen sind so etwas wie die
Elektromobile des Bildungswesens: Entwickelt wurden sie bereits vor über
hundert Jahren, und obwohl ihr Durchbruch immer wieder prophezeit worden ist,
konnten sie sich bis heute nie richtig durchsetzen, trotz allen Hinweisen auf
ihre moralische Überlegenheit. Denn die Bevölkerung misstraut ihnen. Wo immer
mit alternativen Lernformen experimentiert wird, sind Konflikte mit Eltern,
Schülern oder Lehrern programmiert. Eltern monieren, dass die Kinder
überfordert seien, Kinder klagen über Lärm im Klassenzimmer, Lehrer über
Mehraufwand und moralischen Druck von oben, dem Zeitgeist zu folgen. Gleich in
mehreren Zürcher Gemeinden wird derzeit heftig über Lernmethoden gestritten.
Tobt da ein Aufstand von Wutbürgern, die die Zeichen der Zeit noch nicht
erkannt haben? Die Reaktionen von Anhängern alternativer Lernformen, die in der
Bildungsdebatte den Ton angeben, lassen es vermuten: Mit besorgter Miene
verkünden sie bei jedem Schulstreit, dass Neues eben «Ängste» auslöse und nicht
jeder wissen könne, dass Frontalunterricht ein Relikt aus Albert Ankers Zeiten
sei.
Notfalls
beruft man sich auf «angstfreies Klima»
Die
süffisante Herablassung ist allerdings fehl am Platz. Denn bis heute gibt es
keinerlei empirische Beweise, dass die Kinder dank alternativen
Unterrichtsmethoden sozialer und selbständiger, geschweige denn besser werden.
Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie hat nach der Auswertung von
Hunderten Studien gar eine ganz andere Entdeckung gemacht: Ausschlaggebend für
den Lernerfolg ist der Lehrer – wobei gerade jene Erfolg haben, die
hauptsächlich auf den viel geschmähten Frontalunterricht setzen. Gemeinsamer
Unterricht ist demnach die klügere Antwort auf heterogene Klassen als
massgeschneiderte Lernprogramme, die gerade schwächere Schüler überfordern –
und selbst manchen 20-jährigen Studenten vor disziplinarische Probleme stellen
würden.
Nach dem
heutigen Forschungsstand lässt sich damit einzig sagen, dass alternative
Lernformen nicht nachweislich schaden. Alle anderen Aussagen über ihre
angeblichen Wunderkräfte wären in der Privatwirtschaft ein Fall für die
Wettbewerbskommission. Umso erstaunlicher ist es, wie unbeirrt alternative
Lernformen als Ei des Kolumbus gefeiert werden. So wird angehenden Lehrern an
pädagogischen Hochschulen beigebracht, dass guter Unterricht selbstorganisiert
und durchmischt sei, während «vorbildliche» (also nach vorherrschender
Lehrmeinung unterrichtende) Schulen wie Neftenbach und Uetikon regelmässig mit
Preisen überhäuft werden. Dies nicht etwa, weil die Schüler dort besonders gut
wären. Sondern weil die Juroren eigene «Beweise» fanden wie «offene,
freundliche Gesichter» oder ein «angstfreies Klima». Dass die Schüler Streiks
gegen das selbstorganisierte Lernen vom Zaun brachen (so geschehen in Neftenbach)
oder scharenweise an Privatschulen wechselten (so geschehen in Uetikon),
spielte bei den Ehrungen offensichtlich keine Rolle.
Unerschütterlicher
Glaube
Ob es klug
ist, sich hinter moralisch aufgeladenen Behauptungen zu verschanzen, statt der
Realität ins Auge zu sehen, ist eine andere Frage. Denn die Bevölkerung hat
immer weniger Verständnis für Reformen und schöngeistige Konzepte, deren Nutzen
kaum erkennbar ist, abgesehen vom Prädikat «modern». Erstaunlich ist das nicht.
Kaum eine Reform der letzten Jahre hat wirklich gehalten, was von ihr
versprochen wurde. So wurde die Integration von behinderten und
verhaltensauffälligen Schülern in Regelklassen einst mit dem Argument verkauft,
dass alle Kinder voneinander profitierten und niemand mehr ausgeschlossen
werde. In der Praxis kostet das Konzept viel Geld, und trotzdem ist die Zahl
der Sonderschüler nicht gesunken, sondern gestiegen. Sozialere Kinder
versprachen sich Bildungstheoretiker und -politiker auch von einer «Grundstufe»
aus Kindergarten und Primarschule. Doch nachhaltige Effekte waren auch hier
nicht messbar, abgesehen von höheren Kosten. Die Zürcher Stimmbürger erteilten
dem Projekt 2012 eine deutliche Abfuhr.
Der Glaube
der tonangebenden Bildungs-Gilde an die eigenen Möglichkeiten ist trotz allen
ernüchternden Resultaten unerschütterlich. Das zeigt der Lehrplan 21, mit dem
den Schülern über einen «selbstgesteuerten Prozess» rund 4000 «Kompetenzen»
(Stand heute) vermittelt werden sollen. Für die Volksschule ist das keine gute
Nachricht. Denn je weiter Anspruch und Wirklichkeit auseinanderdriften, desto
schlechter steht es um ihre Glaubwürdigkeit. Und jene, die es sich leisten
können, werden noch häufiger mit den Füssen abstimmen.
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