28. Juli 2014

Plädoyer für die Rückkehr zum pädagogisch geführten Klassenunterricht

Es rumort in der Schweizer Bildungslandschaft. Lehrmeister beklagen sich schon lange über ungenügend vorbereitete Volksschulabgänger. Immer mehr Wissenschaftler fordern einen Reformstopp. Viele Eltern und Lehrer haben genug erlebt und wollen zurück zum traditionellen Unterricht. Die Zeitungen sind voll von Kritik am „selbstorganisierten Lernen“ in altersdurchmischten Klassen“ (AdL). Als erfahrene Lehrerin muss ich die geäusserten Bedenken in vielen Punkten bestätigen. Es besteht nun leider die Gefahr, dass mit dem Lehrplan 21 die gesamte Volksschulbildung auf das Konzept der „selbstgesteuerten, kompetenzorientierten Lernprozesse“ festgelegt wird.


Das "selbstorganisierte Lernen" bringt nicht das, was es verspricht.


Plädoyer für die Rückkehr zum pädagogisch geführten Klassenunterricht, Elsbeth Schaffner, 27.7.



Kernpunkte dieser Reformprogramme sind die Abschaffung des Klassenunterrichts und der traditionellen pädagogischen Aufgabe des Lehrers. Zu Unrecht wurde jahrelang der Klassenunterricht als „autoritärer Frontalunterricht“ gebrandmarkt. Auch die seit Jahrzehnten herumgereichte Karikatur, die den Begriff der „Heterogenität“ der Schüler geprägt hat, wird dem moderne Klassenunterricht nicht gerecht: Ein strenger Lehrer, der mit einem Zeigestock hinter einem Pult sitzt, erteilt den „Schülern“ die Aufgabe auf einen Baum zu klettern. Da die Klasse aus verschiedenen Tiere besteht (Elefant, Affe, Papagei, Fisch im Glas), ist es natürlich ungerecht, allen die gleiche Aufgabe zu stellen. Anknüpfend an die zutreffende Beobachtung, dass gleichaltrige Kinder individuell verschieden und die Zusammensetzung der Klassen von Vielfalt geprägt ist, lautet das neue Bildungsparadigma, guter Unterricht dürfe nicht mehr „lehrerzentriert“, er müsse „schülerzentriert“ sein. In der Praxis hat sich aber gezeigt, dass die meisten Kinder und Jugendliche nicht so „funktionieren“, wie es die Theoretiker sich vorstellen.
Die Nachteile des „individualisierten“ oder „selbstgesteuerten“ Lernens sind offensichtlich: Immer mehr Kinder haben, beispielsweise nach der ersten Klasse die Plus- und Minusrechnung im Zahlenraum bis 10 nicht automatisiert und den so genannten Zehnerübergang (6+7=13 bzw. 13-7=6) nicht gelernt. Wichtige Grundlagen wie das kleine Einmaleins werden nicht systematisch erarbeitet und gefestigt. Die Kinder sind auf sich gestellt, was dazu führt, dass sie überall dort, wo ihnen etwas nicht auf Anhieb von alleine gelingt, entmutigt ausweichen. Lese- und Rechtschreibprobleme sind die Folge. Die fehlenden Grundlagen sind dann die Ursache für die Schwierigkeiten, die in den späteren Schuljahren auftauchen. Am meisten betroffen sind Kinder mit einem Migrationshintergrund und aus bildungsfernen Familien.
Was den Kindern fehlt ist die vertrauensvolle Beziehung zum Lehrer. Es braucht die Lehrerpersönlichkeit, die den Schülern den Schulstoff im Klassenunterricht vermittelt. Es braucht den fachlich sowie didaktisch sauber aufgebauten Unterricht, in dem die Schüler altersentsprechend und schrittweise angeleitet werden. Dies wird auch in der vielzitierten Hattie-Studie bestätigt.
Die gleichaltrigen Kinder durch gemeinsamen Unterricht voranzubringen, entspricht den entwicklungspsychologischen und anthropologischen Erkenntnissen, dass sich der Mensch nur in der Gemeinschaft durch Beziehung entwickelt. Gemeinschaft entsteht, wenn ein Lehrer die Schüler auf eine gemeinsame Sache und aufeinander beziehen kann. Mit seinem Einfühlungsvermögen nimmt ein guter Lehrer wahr, wie es jedem einzelnen geht - ob die Kinderaugen leuchten oder abgelöscht sind - und er achtet darauf, dass kein Kind sich blamiert fühlen muss und Leistungen angemessen zur Geltung kommen. Es ist die pädagogische Aufgabe des Lehrers mit seiner Persönlichkeit eine Atmosphäre zu schaffen, in der alle miteinander und voneinander lernen können. So kann über drei Jahre hinweg eine Klassengemeinschaft wachsen, die von gegenseitiger Hilfe, Zusammenarbeit und Freundschaft getragen ist.
Die Volksschule hat bis heute die Erziehung und Bildung zum mündigen Bürger zum Ziel. Lernen ist nicht Selbstzweck sondern dient letztendlich dazu, später selbständig und verantwortungsbewusst seinen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Warum also nicht einfach wieder anknüpfen am traditionellen Schweizerischen Bildungsverständnis und weiterentwickeln, was mit Johann Heinrich Pestalozzi eine lange und auf der ganzen Welt modellhafte Tradition hat?
Den „modernen“ Konzepten scheint ein ökonomistisches Menschenbild zugrunde zu liegen. Genauso wie der „freie“ globalisierte Markt zu einem erbitterten Kampf um Ressourcen und Marktanteile und damit zum „survival of the fittest“ zu führen droht, kommen mit den  - ebenfalls globalisierten – Lernsystemen offensichtlich nur diejenigen zurecht, die von zu Hause zusätzlich Unterstützung erhalten. Wer soll sich dann allen anderen annehmen, denen in der Schule nicht eine umfassende Bildung vermittelt wird? Oder glauben wir wirklich, dass Kinder „selbstwirksame“ Wesen sind, die ihr „Potenzial“ in einer anregenden „Lernumgebung“ oder einer „Lernlandschaft“ von selbst „entfalten“, und dass man deshalb den von einem pädagogisch gut ausgebildeten Lehrer geführten Klassenunterricht durch IT-Tools, „Kompetenzraster“ und vielfältiges „didaktisches Material“ ersetzen kann? Fügen wir nicht unserer Gesellschaft nachhaltig Schaden zu, wenn fehlgeleitete Entwicklungen nicht erkannt und korrigiert werden?
Die erfreulichen Initiativen in den verschiedenen Kantonen zeigen einen Weg, die in den letzten Jahren diskussionslos eingeführten Schulreformen zu überdenken und wieder an die Grundlagen des humanistischen Bildungsverständnisses anzuknüpfen. Über alle unerheblichen Unterschiede in den weltanschaulichen Ansichten hinweg können die verbindenden Werte in Schule und Gesellschaft wieder ins Zentrum der Politik gerückt werden. Die direkte Demokratie wird es ermöglichen, sich über die wichtigsten Inhalte und Ziele der Volksschule zu einigen, ohne den Föderalismus und das Subsidiaritätsprinzip zu schwächen.

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