In Muri liegt die Übertrittsquote von der Primar in die Sek bei 70 - 80 Prozent, Bild: Valérie Chételat
Wenn Kinder plötzlich reüssieren, Der Bund, 31.5. von Mireille Guggenbühler
So richtig glücklich ist niemand in dieser Zeit. Die Kinder
nicht, die Eltern nicht, die Lehrer nicht. Geht es um den Übertritt von der
Primar- in die Sekundarschule, liegen die Nerven vieler Beteiligter blank. Vor
allem auch dann, wenn die Beurteilung des Lehrers oder der Lehrerin in eine
andere Schultypempfehlung mündet, als sich dies die Eltern für ihr Kind
wünschen. Um diese belastenden Auseinandersetzungen zu minimieren, hatten
Schülerinnen und Schüler, deren Eltern und Lehrer sich in der Übertrittsfrage
nicht einigen konnten, in diesem Jahr erstmals die Möglichkeit, an einer
Kontrollprüfung teilzunehmen, um so allenfalls die Lehrerempfehlung zu
korrigieren.
Das Resultat der Prüfungen hat selbst die Verantwortlichen der
Erziehungsdirektion überrascht, wie Erwin Sommer, Vorsteher des Amtes für Kindergarten,
Volksschule und Beratung, sagt: Von den 326 Schülerinnen und Schüler im Kanton,
die diese Kontrollprüfungen zum Sek-Übertritt absolvierten, weil sich Lehrer
und Eltern nicht über die künftige Niveaueinteilung des Kindes einigen konnten,
haben es knapp 35 Prozent der Schüler oder 113 Kinder in die Sek geschafft. In
die Spez-Sek schafften es 1,2 Prozent oder 4 Schüler. In einigen Gemeinden
gelang gar über der Hälfte der an die Prüfung angetrabten Kinder der Sprung in
die Sekundarschule. Somit werden sie künftig einen anderen als den von ihren
Lehrkräften empfohlenen Schultyp besuchen. So etwa in den beiden Schulgemeinden
Muri-Gümligen und Hilterfingen-Oberhofen, in denen 16 Schüler und Schülerinnen
zur Prüfung angetreten sind. Auch in der Stadt Bern konnten 33 Prozent der
Schülerinnen und Schüler an der Prüfung ihr Niveau heben und gelten nun als
Sekundarschüler.
Hohe Ansprüche von Eltern
Nebst den Prüfungsresultaten verbindet vor allem die beiden
Schulgemeinden Muri-Gümligen und Hilterfingen-Oberhofen auch sonst so einiges:
Beide haben, nebst La Neuveville, die höchste Übertrittsquote von
Primarschülerinnen und -schülern in die Sekundarschule. Diese liegt zwischen 70
und 80 Prozent.
Die Eltern in den beiden Gemeinden sind in der Regel gut
ausgebildet – entsprechend anspruchsvoll sind dann aber auch deren
Bildungsansprüche an die Schule. «Würde es nach den Wünschen der Eltern gehen,
müssten wir hier gar keine Realstufe führen», sagt Jean Reusser, Schulleiter
der Mittelstufenschule Hilterfingen-Oberhofen.
Auch in Muri ist die Realstufe für viele Eltern keine Option in
der Schullaufbahn ihres Kindes, wie Roland Näf sagt. Er ist Schulleiter der Schule
Seidenberg – und SP-Kantonalpräsident. Entsprechend schwierig gestalten sich in
beiden Gemeinden die Gespräche zum Übertritt der Schüler in die Sekundarschule,
wenn sich Lehrer und Eltern nicht einig sind. Nicht selten ist es deshalb in
der Vergangenheit zu Rechtsverfahren gekommen.
Schüler sind die Leidtragenden
Von den Kontrollprüfungen haben sich Lehrer und Schulleitungen
deshalb eine Entlastung erhofft, sagen die beiden Schulleiter. Indes: Dass 50
Prozent der Schüler nach der Prüfung entgegen der Lehrerempfehlung neu als
Sek-Schüler gelten, damit haben die beiden Schulleiter nicht gerechnet.
«Eigentlich dachten wir, mit den Kontrollprüfungen den Beleg dafür zu schaffen,
dass wir eine zu tiefe Realquote haben», sagt Roland Näf. «Nun ist das Gegenteil
passiert. Wir werden künftig eine noch tiefere Realquote haben, sie wird
vermutlich bald unter 20 Prozent liegen. Dieser Entwicklung stehe ich ehrlich
gesagt etwas hilflos gegenüber.»
Die Leidtragenden in dieser Geschichte sind die Schülerinnen und
Schüler. Das zumindest findet Schulleiter Näf. Der Druck auf die Kinder, in die
Sekundarschule übertreten zu müssen, werde durch die tiefe Realquote nur noch
grösser. Und: «Wenn so wenige Kinder die Realschule besuchen, befinden sich
diese viel stärker in einer Sondersituation.» Und gerade in einer Gemeinde wie
Muri-Gümligen oder auch Hilterfingen und Oberhofen ist diese Sondersituation
für viele Kinder nicht sehr ermutigend.
Der soziale Druck
Denn der Bildungserfolg der Kinder ist in diesen Gemeinden «eine
Prestigefrage der typischen Mittelstandsfamilien», wie Roland Näf sagt.
Entsprechend gross ist der soziale Druck unter den Eltern, sich am Schulerfolg
der Kinder zu messen und ihren Kindern die vermeintlich beste Schullaufbahn zu
ermöglichen. Dies, obwohl es heute längstens nicht mehr die geradlinige,
typische Berufslaufbahn gibt, die dann auch zum Erfolg führt. «Ich betone immer
wieder, dass ein guter Realschüler am Ende weiter kommen kann als ein
schlechter Sekundarschüler, doch das kommt gar nicht an», sagt Jean Reusser.
Dass nun über 50 Prozent der Kinder, welche die
Kontrollprüfungen machten, doch noch in die Sekundarschule kommen, dafür haben
sowohl Roland Näf wie Jean Reusser keine abschliessende Erklärung. Doch sie
haben einige Vermutungen: Beide gehen davon aus, dass sich die Schülerinnen und
Schüler gezielt durch Nachhilfeunterricht auf die Prüfungen vorbereitet haben.
Denn das Kinder während der gesamten Schullaufbahn Nachhilfeunterricht
besuchen, ist in den beiden Gemeinden weit verbreitet und normal. «Möglich ist
aber durchaus auch, dass die Prüfungen schlicht zu leicht gewesen sind», sagt
Roland Näf.
Falsche Lehrer-Beurteilung?
Doch ist dies wirklich der Grund für den Prüfungserfolg der
Kinder? Oder lagen vielleicht nicht auch ganz einfach die Lehrkräfte mit ihren
Einschätzungen und den daraus abgeleiteten Empfehlung daneben? Sowohl Reusser
wie Näf glauben dies nicht. «Ich bin überzeugt, dass die Lehrkräfte kompetent
genug sind, um zu beurteilen, ob ein Kind den Anforderungen einer
Sekundarschule genügt oder nicht», sagt Näf.
Umstrittener Prüfungsinhalt
Auch bei der Erziehungsdirektion hat man keine Erklärungen
dafür, weshalb am Ende 35 Prozent der Schüler den Sprung in die Sekundarschule
trotz anderslautender Empfehlung doch noch schafften. «Am meisten wird der
Prüfungsinhalt angezweifelt», sagt Erwin Sommer. Verschiedene Schulleiter im
Kanton Bern empfänden die Prüfung als zu leicht. «Wir wollten aber bewusst
keine reine Abweisungsprüfung schaffen, wie diese der Kanton Aargau kennt,
sondern eine faire Situation», sagt Sommer.
Reüssiert haben an den Kontrollprüfungen nebst vielen Schweizer
Kindern vor allem auch fremdsprachige Buben. Auch dafür hat man bei der
Erziehungsdirektion noch keine Erklärung. Aber: «Wir werden die
Prüfungsresultate noch detailliert auswerten und Interviews führen mit
Lehrkräften, Eltern und Schülern», sagt Sommer. Der entsprechende
Auswertungsbericht zu diesen ersten Kontrollprüfungen soll dann Ende Jahr
vorliegen.
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