Lehrlinge verzweifelt gesucht, NZZaS, 1.6. von Katharina Bracher
Noch vor elf Jahren waren die Verhältnisse
umgekehrt. Im Frühjahr 2003 zeichnete sich ein schwerwiegender
Lehrstellenmangel ab. Heute sind per Ende Mai landesweit noch 13 635
Ausbildungsplätze mit Lehrbeginn Sommer 2014 unbesetzt. Dies geht aus dem
wöchentlich aktualisierten Lehrstellennachweis (Lena) der Kantone hervor. Da
die Betriebe jedoch nicht verpflichtet sind, offene Lehrstellen zu melden,
könnte die tatsächliche Zahl noch höher sein.
«Letztes Jahr standen im Kanton St. Gallen Ende Mai auf dem Lena
fast 1200 Lehrstellen offen, während gleichzeitig noch etwa 350 Jugendliche
ohne Anschlusslösung waren», erklärt Ruedi Giezendanner vom Amt für
Berufsbildung in St. Gallen. Diese Diskrepanz habe sich in den letzten Jahren
verstärkt. Während vor wenigen Jahren schon im Winter vor Lehrbeginn die
begehrtesten Stellen vergeben waren, wächst die Anzahl der Lehrstellen, die
noch im Frühsommer offen sind, kontinuierlich an.
Kampf um die Besten
Im Kanton Zürich etwa hat die Zahl der per Ende Mai offenen
Lehrstellen in den letzten vier Jahren um fast 70 Prozent zugenommen. Laut der
Zürcher Bildungsstatistik waren Ende April 2010 noch 1133 Lehrstellen offen,
während Ende Mai 2014 bereits 1962 Lehrstellen als unbesetzt im Lena aufgeführt
wurden.
Allein in der Detailhandelsbranche sind laut Lena schweizweit noch
1342 Ausbildungsplätze offen, in der Baubranche sind es etwas mehr als 400.
Auch in Berufen, die von jeher begehrt sind bei Schulabgängern, wie etwa der
Lehre zum Kaufmann oder zur Kauffrau, suchen Betriebe noch 577 Lehrlinge. Wie
viele dieser Lehrstellen gar nicht besetzt bleiben, zeigt sich erst im Herbst,
wenn die Jugendlichen ihre Berufslehre antreten. Da aber heute viele Betriebe
mit der Rekrutierung der Lehrlinge schon ein Jahr vor Lehrantritt beginnen,
wird die Zahl der unbesetzten Lehrstellen hoch sein.
Ein wichtiger Grund für die vielen offenen Lehrstellen, sagt
Giezendanner, seien die geburtenschwachen Jahrgänge. «Für die Lehrbetriebe wird
es aufgrund des Rückgangs der Schülerzahlen immer schwieriger, geeignete
Lernende zu finden. Im Kanton St. Gallen verzeichnen wir Jahr für Jahr weniger
Schulabgänger», erklärt er. Zwischen 2008 und 2013 habe deren Zahl um rund 20
Prozent abgenommen. Folglich habe sich der Wettbewerb um die besten Talente
verschärft.
Niveau stark angehoben
Im Kanton Zürich sinken die Schülerzahlen auch wegen der
unverändert hohen Zuwanderung noch nicht so stark. Momentan halten sich darum
die Zahl der Lehrstellenangebote und jene der Schulabgänger noch die Waage -
trotzdem bleiben Lehrstellen vermehrt unbesetzt. «In den vergangenen Jahren war
die Zahl derjenigen Lehrstellen, die unbesetzt blieben, etwa gleich hoch wie
die Zahl der Schulabgänger, die statt einer Berufslehre eine Anschlusslösung
antreten mussten», sagt Philipp Dietrich vom Amt für Jugend und Berufsberatung.
Er bedaure sehr, dass engagierte Lehrbetriebe offenbar kaum geeigneten
Nachwuchs finden. «Die Gründe dafür sind aber nicht immer ganz klar», erklärt
Dietrich. Einerseits hätten einige Berufe ein Imageproblem. «Andererseits ist
spürbar, dass die Anforderungen in einzelnen Ausbildungen in den letzten Jahren
gestiegen sind», sagt er. Von den Jugendlichen würden heute klar höhere
Kompetenzen verlangt - etwa bei den Sprachkenntnissen oder bei den
IT-Fähigkeiten. «Doch das Reservoir an Jugendlichen, die diesen höheren
Anforderungen überhaupt noch genügen, ist eben auch irgendwo begrenzt», sagt
Dietrich.
Mehr IT, mehr Sprachen
Ein Beispiel für die stark gestiegenen Anforderungen ist die
Detailhandelsbranche, wo in den vergangenen Jahren die Bildungsverordnungen
angepasst und so das Niveau angehoben wurde. «Mit dem Aufkommen des
Internethandels verlangen die Kunden mehr Beratungsqualität, wenn sie im
stationären Detailhandel einkaufen», erklärt Adrian Wyss, Geschäftsführer der
Swiss Retail Federation. Auch die Baubranche hat das Ausbildungsniveau
angehoben. «Dies verengt naturgemäss das zur Verfügung stehende Potenzial an
Ausbildungsfähigen», sagt Daniel Lehmann, Direktor des Schweizerischen
Baumeisterverbands. «Ausserdem hat die Bereitschaft der Betriebe abgenommen, es
mit jedem zu versuchen», ergänzt er.
«Lehrmeister verzichten heute lieber auf die Besetzung einer
Lehrstelle, wenn sie keine geeignete Person finden», sagt Hans-Ulrich Bigler,
Direktor der Schweizerischen Gewerbeverbandes. In vielen Betrieben habe sich
auch die Lehrlingsauswahl professionalisiert, was die Hürde für Bewerber
nochmals erhöhe. «Übertrieben finde ich, dass manche Unternehmen, allen voran
Banken und Versicherungen, ganze Assessments mit Fünfzehnjährigen veranstalten,
dass sie Vorträge halten und zum Teil mehrere Leistungstests bestehen müssen»,
kritisiert Bigler. Doch ein gutes Zeugnis und eine erfolgreiche Schnupperlehre
seien heute leider in vielen Betrieben nicht mehr ausreichend.
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