1. Juni 2014

Kampf um die Besten

Mehr als 13'000 Ausbildungsplätze sind noch offen - auch eine Folge der gestiegenen Anforderungen bei der Lehrstellensuche. Viele Unternehmen werden 2014 ihre Lehrstellen nicht besetzen können. Die Firmen kämpfen um die besten Jugendlichen.









Lehrlinge verzweifelt gesucht, NZZaS, 1.6. von Katharina Bracher



Noch vor elf Jahren waren die Verhältnisse umgekehrt. Im Frühjahr 2003 zeichnete sich ein schwerwiegender Lehrstellenmangel ab. Heute sind per Ende Mai landesweit noch 13 635 Ausbildungsplätze mit Lehrbeginn Sommer 2014 unbesetzt. Dies geht aus dem wöchentlich aktualisierten Lehrstellennachweis (Lena) der Kantone hervor. Da die Betriebe jedoch nicht verpflichtet sind, offene Lehrstellen zu melden, könnte die tatsächliche Zahl noch höher sein.
«Letztes Jahr standen im Kanton St. Gallen Ende Mai auf dem Lena fast 1200 Lehrstellen offen, während gleichzeitig noch etwa 350 Jugendliche ohne Anschlusslösung waren», erklärt Ruedi Giezendanner vom Amt für Berufsbildung in St. Gallen. Diese Diskrepanz habe sich in den letzten Jahren verstärkt. Während vor wenigen Jahren schon im Winter vor Lehrbeginn die begehrtesten Stellen vergeben waren, wächst die Anzahl der Lehrstellen, die noch im Frühsommer offen sind, kontinuierlich an.
Kampf um die Besten
Im Kanton Zürich etwa hat die Zahl der per Ende Mai offenen Lehrstellen in den letzten vier Jahren um fast 70 Prozent zugenommen. Laut der Zürcher Bildungsstatistik waren Ende April 2010 noch 1133 Lehrstellen offen, während Ende Mai 2014 bereits 1962 Lehrstellen als unbesetzt im Lena aufgeführt wurden.
Allein in der Detailhandelsbranche sind laut Lena schweizweit noch 1342 Ausbildungsplätze offen, in der Baubranche sind es etwas mehr als 400. Auch in Berufen, die von jeher begehrt sind bei Schulabgängern, wie etwa der Lehre zum Kaufmann oder zur Kauffrau, suchen Betriebe noch 577 Lehrlinge. Wie viele dieser Lehrstellen gar nicht besetzt bleiben, zeigt sich erst im Herbst, wenn die Jugendlichen ihre Berufslehre antreten. Da aber heute viele Betriebe mit der Rekrutierung der Lehrlinge schon ein Jahr vor Lehrantritt beginnen, wird die Zahl der unbesetzten Lehrstellen hoch sein.
Ein wichtiger Grund für die vielen offenen Lehrstellen, sagt Giezendanner, seien die geburtenschwachen Jahrgänge. «Für die Lehrbetriebe wird es aufgrund des Rückgangs der Schülerzahlen immer schwieriger, geeignete Lernende zu finden. Im Kanton St. Gallen verzeichnen wir Jahr für Jahr weniger Schulabgänger», erklärt er. Zwischen 2008 und 2013 habe deren Zahl um rund 20 Prozent abgenommen. Folglich habe sich der Wettbewerb um die besten Talente verschärft.
Niveau stark angehoben
Im Kanton Zürich sinken die Schülerzahlen auch wegen der unverändert hohen Zuwanderung noch nicht so stark. Momentan halten sich darum die Zahl der Lehrstellenangebote und jene der Schulabgänger noch die Waage - trotzdem bleiben Lehrstellen vermehrt unbesetzt. «In den vergangenen Jahren war die Zahl derjenigen Lehrstellen, die unbesetzt blieben, etwa gleich hoch wie die Zahl der Schulabgänger, die statt einer Berufslehre eine Anschlusslösung antreten mussten», sagt Philipp Dietrich vom Amt für Jugend und Berufsberatung. Er bedaure sehr, dass engagierte Lehrbetriebe offenbar kaum geeigneten Nachwuchs finden. «Die Gründe dafür sind aber nicht immer ganz klar», erklärt Dietrich. Einerseits hätten einige Berufe ein Imageproblem. «Andererseits ist spürbar, dass die Anforderungen in einzelnen Ausbildungen in den letzten Jahren gestiegen sind», sagt er. Von den Jugendlichen würden heute klar höhere Kompetenzen verlangt - etwa bei den Sprachkenntnissen oder bei den IT-Fähigkeiten. «Doch das Reservoir an Jugendlichen, die diesen höheren Anforderungen überhaupt noch genügen, ist eben auch irgendwo begrenzt», sagt Dietrich.
Mehr IT, mehr Sprachen
Ein Beispiel für die stark gestiegenen Anforderungen ist die Detailhandelsbranche, wo in den vergangenen Jahren die Bildungsverordnungen angepasst und so das Niveau angehoben wurde. «Mit dem Aufkommen des Internethandels verlangen die Kunden mehr Beratungsqualität, wenn sie im stationären Detailhandel einkaufen», erklärt Adrian Wyss, Geschäftsführer der Swiss Retail Federation. Auch die Baubranche hat das Ausbildungsniveau angehoben. «Dies verengt naturgemäss das zur Verfügung stehende Potenzial an Ausbildungsfähigen», sagt Daniel Lehmann, Direktor des Schweizerischen Baumeisterverbands. «Ausserdem hat die Bereitschaft der Betriebe abgenommen, es mit jedem zu versuchen», ergänzt er.

«Lehrmeister verzichten heute lieber auf die Besetzung einer Lehrstelle, wenn sie keine geeignete Person finden», sagt Hans-Ulrich Bigler, Direktor der Schweizerischen Gewerbeverbandes. In vielen Betrieben habe sich auch die Lehrlingsauswahl professionalisiert, was die Hürde für Bewerber nochmals erhöhe. «Übertrieben finde ich, dass manche Unternehmen, allen voran Banken und Versicherungen, ganze Assessments mit Fünfzehnjährigen veranstalten, dass sie Vorträge halten und zum Teil mehrere Leistungstests bestehen müssen», kritisiert Bigler. Doch ein gutes Zeugnis und eine erfolgreiche Schnupperlehre seien heute leider in vielen Betrieben nicht mehr ausreichend.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen