9. April 2014

"Neomanie prägt IT-Diskurs"

Der Zürcher Erziehungswissenschafter Roland Reichenbach macht sich Gedanken zum Gebrauch neuer Medien in der Schule. 




"Überall Ablenkung, Zerstreuung und Bildbeschleunigung - da muss die Schule nicht auch noch einen draufsetzen", Roland Reichenbach. Bild: Universität Zürich


Schnelle Oberflächen, träge Bildung, NZZ, 9.4. von Roland Reichenbach


Ein allgemein-pädagogischer Kommentar zum Einsatz digitaler Medien in Schule und Unterricht muss Umwege machen dürfen. In den Kurven verliert man viel Zeit, doch wer keine Verzögerungen in Kauf nehmen will, wird das Ziel nicht erreichen. Die «oberste, wichtigste und nützlichste aller Regeln der Erziehung» heisse nicht: «Zeit gewinnen, sondern: Zeit verlieren!», lautet eine vielzitierte Stelle aus Jean-Jacques Rousseaus «Emile». Mit dem Satz kann eine Menge pädagogischer Unfug und didaktischer Leerlauf gerechtfertigt werden. Einerseits. Andererseits kommen damit eine Intuition, eine Einsicht und eine Erfahrung zum Ausdruck, die mehr sind als launenhafte Lust an der Paradoxie. Die Menschen leben immer länger als die Generationen vor ihnen, aber auch immer schneller, und überall entdecken sie lästige Zeitverschwendung, alles dauert immer mehr zu lange. Zum Beispiel diese Studenten: Zwei Stunden an einem schwierigen Text sitzen, das schaffen sie nicht! Aber haben immer eine Meinung über alles, ohne sich mit der Materie eingehend beschäftigt zu haben. Eigenartig.
Der normale Mensch glaubt zwar nicht, dass es im Leben vor allem darum gehe, es möglichst effizient und wirkungsvoll hinter sich zu bringen. Doch wo er tätig ist, in der Schule, Ausbildung und in der Arbeit - mittlerweile auch in der sogenannten «Freizeit» -, scheinen genau diese Kriterien ausschlaggebend zu sein. Ja, eigenartig. Zum Glück gibt es die digitalen Medien, die helfen, Zeit zu sparen, schneller und wirkungsvoller zu lernen. Wozu wäre ihr Einsatz bedeutsam, wenn nicht dazu?
Der Hund an der Tafel
Vor einiger Zeit gab es noch schwarze Tafeln in den Schulzimmern, dazu weisse und farbige Kreide. Ein paar Schüler hatten «Wandtafeldienst», sie mussten die Tafeln immer wieder putzen. Deleten. Der geschriebene Text oder die Kreidezeichnung wurden immer wieder gelöscht und verschwanden für immer. Welche Verschwendung! Später musste das Gleiche womöglich erneut geschrieben oder gezeichnet werden, um dann kurz drauf wiederum gelöscht zu werden. Die Wandtafel speicherte nichts. Dafür wurde abgeschrieben, abgezeichnet. Eine Schülerin fragte vielleicht, ob die Überschrift «zwei Häuschen» gross sein und ob sie in Rot geschrieben werden müsse. Ob man auch eine andere Farbe benützen könne. Ja, sagte der Lehrer vielleicht, aber nicht gelb, das sehe man kaum. Wunderbare Ineffizienz: Der Lehrer schreibt - Schönschrift - an die Tafel, die Klasse schreibt ab. Später werden die Hefte korrigiert und zurückgegeben. Versehen mit kleinen Kommentaren, je nach Fehler und Schriftbild. Oder die Klasse behandelt das Thema «Hund», die Lehrerin hat am Vorabend einen Hund an die Tafel gemalt, das dauerte, sie hat sich Mühe gegeben. Man erkennt, es ist ein Hund, allerdings ein mittelmässiger Hund. Am nächsten Morgen werden die Tafelflügel geöffnet, eine Art Theatervorhang, und der mittelmässige Hund erscheint. Die Kinder sind beeindruckt: Erstens ist es ein Hund, zweitens möchten sie auch so zeichnen können. Später weigern sich die beiden Knaben des Wandtafeldienstes mehrere Wochen lang, den Hund auszulöschen, denn er wird für immer verschwinden. In der Stunde zeichnen die Kinder den Hund in ihre Hefte, das sieht meist noch mittelmässiger aus, aber sie sind ganz bei der Sache und geben sich Mühe, wie abends zuvor die Lehrerin. Hinsehen, um etwas zu reproduzieren, ist etwas ganz anderes, als nur zu schauen. Doch es gibt ja so gute Filme über Hunde, Hunderassen, Hundedressur, den vielfältige Einsatz von Hunden für den Menschen, was man will, Tausende von attraktiven Bildern; aber die Kinder wollen nicht, dass dieser im Grunde mickrige Kreidehund gelöscht wird. Es ist, als ob sie mehreren Umständen Anerkennung zollen würden: dass es diesen Hund nur einmal gibt und nur kurz, dass die Lehrerin ihn allein für sie gezeichnet und gemalt hat (nicht für andere Kinder), dass sie sich offenbar Mühe gegeben hat, dass sie Zeit «verloren» hat. Sie hätte effizienter sein können, Arbeitsblätter oder ein Film wären informativer gewesen, vielleicht hätten die Kinder auch inhaltlich mehr gelernt. Hier aber haben sie gemerkt: Die Lehrerin investiert viel Zeit in uns, und ganz sicher mag sie Hunde.
Lehrmittel zeigen nicht nur die Sache, sondern geben auch Auskunft über die Beziehung zwischen der Lehrperson und den Schülern. Sie zeigen mitunter, wie «ernst» es die Lehrerin meint. Doch das tönt wie pädagogische Nostalgie, die nicht mehr sein soll! Gute und effiziente Lehrmittel erübrigen diesen - scheinbaren - Fokus auf die Lehrperson, wirklich «gute» Lehrmittel scheinen die Lehrperson selber zu erübrigen. Sie verwaltet im Hintergrund den Einsatz digitaler Mittel, «professionell», wie es heisst, und doch «kindzentriert», individuell angepasst und der Sache verpflichtet . . . Das ist nur Schein, es verhält sich anders. Und nicht nur auf der Grundstufe, vielmehr auf jeder Stufe.
Lehren ist die Kunst der Vermittlung von Wissen und Können. Die Mittel dieser Vermittlung sind die «Lehrmittel». Die Lehrmittel sollen den Lernprozess erleichtern, allenfalls zunächst einmal stimulieren. Während die Lehrmittel der Welt des Sichtbaren zugehören, ist und bleibt der Kern des Lernens unsichtbar. Zwar können wir Verhaltensweisen beobachten, etwa das Üben, welches wir dem Lernen zuordnen, aber der Prozess des Lernens ist unsichtbar, während das Lern-Produkt - in Grenzen - sichtbar gemacht und bewertet werden kann. Die Funktion der Lehrmittel ist das Sichtbarmachen dessen, was gelernt werden soll. «Klassisch» reden wir von Anschauung. Etwas veranschaulichen heisst, ein Wissen «vor Augen» zu führen, damit der Lerner «einsichtig» werden möge oder zumindest einen «Einblick» in die Materie erhalte.
Die zwei Grundfunktionen von Lehrmitteln sind die Vergegenwärtigungsfunktion und die Kommunikationsfunktion. Vergegenwärtigen heisst Abwesendes präsent machen. In der Lehre hat diese Vergegenwärtigung meist Abbildcharakter: ein nichtpräsenter Teil der Welt (des Wissens) wird abgebildet, um einen Zugang zu ihm zu erhalten oder zu simulieren. Ein Gegenstand ist allerdings erst dann verstanden, wenn der Lerner sich von diesem Abbild lösen und die Bildlichkeit des Wissens selber erzeugen kann. Das geht nicht ohne Imagination und Erinnerung. Schule dient dazu, die Vermögen der Einbildung und des Erinnerns zu stärken, ohne die keine Kultur denkbar ist. Wer sich mit einem Text beschäftigt, sieht zunächst einfach Anreihungen von sehr vielen Buchstaben. Es ist frustrierend, wenn man die Buchstaben noch nicht richtig kennt, die Wörter nicht schnell genug entziffern oder erraten kann, zumindest ist es eine Herausforderung. Lange Sätze und Fremdwörter sind mitunter der Feind der Studierenden. Doch die Buchstaben und Wörter können erst vor dem «geistigen Auge» Bedeutung erhalten, daher ist, um beim Beispiel zu bleiben, Lesen immer auch eine imaginative Praxis. Die meisten Erwachsenen sind mit dieser Praxis im Alltag so vertraut, dass sie dies nicht mehr merken. Souverän bewegen sie sich in der symbolischen Welt der geschriebenen und gesprochenen Worte. Ihnen helfen digitale Medien sehr. Denn sie hatten zuvor gelernt, sich einer Sache länger widmen zu können. In der zeitgenössischen «Aufmerksamkeitsdefizitkultur» (Christoph Türcke) mag das anders aussehen. Medien beschleunigen und zerstreuen. Die Ruhe muss vom Einzelnen kommen, von aussen kommt sie nicht mehr. Ausser die Schule sieht ihre Aufgabe auch in der Entschleunigung, in der Stärkung der Möglichkeit, sich auf eine Sache zu konzentrieren.
Lernt ein Kind sprechen, später noch lesen und schreiben, ist es aufgenommen in der Kultur der Sprachsymbole, für die es lebenslänglich einstehen wird und mit welcher es sein Welt- und Selbstverständnis immer weiter differenzieren und dasselbe ausdrücken lernt. Die Arbeit am Ausdruck ist Bildung. Ihre Voraussetzung ist die Eindrucksfähigkeit, und um diese zu stärken bzw. nicht verwelken zu lassen, sind Lehrmittel in fast allen Bereichen des Wissens und Könnens unabdingbar. Doch die Eindrucksfähigkeit und Bildsamkeit des Kindes muss heute auch geschützt werden. Die Tugend des Sehens, der konzentrierten Schau, lernte man wahrscheinlich eher noch beim mühsamen Abzeichnen eines ausgestopften Vogels als mit Hilfe der hektischen und zahlreichen Bilder digitaler Medien, die ja auch die kindliche Lebenswelt mittlerweile dominieren.
Rousseau im Chatroom
Die Kommunikationsfunktion dient der Herstellung der «Präsenz» und «Sichtbarkeit» von Personen - Lehrenden und Lernenden. Virtuelle Lernräume ermöglichen dies zeitnah und über grosse Distanzen und teilweise in scheinbarer Unmittelbarkeit. Nun sind mit den digitalen Medien beide Funktionen, Vergegenwärtigung und Kommunikation, sowohl in Effektivität und sicher auch Effizienz gesteigert und erleichtert worden. Das ist zu begrüssen. Und das medientechnologische Potenzial wird weiter optimiert werden können. Doch unabhängig von Vergegenwärtigung und Kommunikation muss weiterhin gelernt - Wissen und Können angeeignet - werden, und kein noch so raffiniertes Lehrmittel entlastet den Lerner von dieser Aufgabe, aber es mag sie erleichtern. Erleichterung und Optimierung sind gutzuheissen. Kritische Nachfragen beziehen sich auf unintendierte Nebeneffekte und die Voraussetzungen günstiger Nutzung von digitalen Medien. Technologiefolgen-Analysen gehören zu einer reflexiven Moderne. So wäre es naiv, zu glauben, der Einsatz etwa des Internets in der Schule könnte allein positive Effekte aufweisen. Das Internet wird für manche Aufgabestellungen in der Schule auf eine Art und Weise eingesetzt, dass sich einem nur die Haare sträuben. Allerdings sind Wirkungsanalysen höchst komplex, oft unmöglich, und es darf viel behauptet werden, was der empirischen Belegbarkeit entbehrt.
Aus einer pädagogischen und bildungstheoretischen Perspektive auf Lehre und Unterricht scheint mir der schulisch relevante IT-Diskurs vor allem von Neomanie geprägt. Beim schulischen Lernen kommt es vor allem auf das Üben an, und Üben ist häufig einfach nur mühsam, d. h. mit Anstrengung verbunden. Mit oder ohne digitale Medien. Nun sagt man zu Recht, es komme eben auf den Einsatz der digitalen Medien, auf den Umgang mit ihnen an. Das ist aber nur eine oberflächliche, zwar gutgemeinte Empfehlung. Es kommt vielmehr auf die Voraussetzungen der Lernenden an, ob sie fähig sind, Sinn und Kohärenz hinter den (oft zu) schnellen Oberflächen herzustellen. Dazu sind Imaginations- und Erinnerungsfähigkeiten sowie ein Ethos der Anstrengung vonnöten, beim kleinen Schüler ebenso wie bei den Studierenden. Die digitalen Medien prägen unsere Welt. Bildung bedeutet heute umso mehr, sich von ihrer Dominanz lösen zu können.
Verständlicherweise spricht man - bildungstheoretisch - von einer Krise der Imagination. Schule und Ausbildung sind der Ort, dieser Krise zu begegnen. Körper und Leib spielen hier eine zentrale Rolle. Vielleicht wird die Zeit kommen, in der im Mathematik- und im Grammatikunterricht zwischendurch Atemübungen durchgeführt werden, Yoga- und Tai-Chi-Übungen (oder was auch immer). Dumm wäre das nicht. Der Lerner muss zu sich kommen. Überall Ablenkung, Zerstreuung und Bildbeschleunigung - da muss die Schule nicht auch noch einen draufsetzen, sondern überlegen, wie die Literalität, die Arbeit am Ausdruck, im Regime der Zeit, welches immer mehr nur noch ein Zeitregime darstellt, geschützt werden kann. Gegen digitale Medien zu reden, ist so dumm wie aussichtslos, ihr schulischer Einsatz ist zu begrüssen und ist eindrücklich. Doch die träge Natur der Lern- und Bildungsprozesse ist zu respektieren. Das hätte uns Rousseau auch in einem Chatroom eröffnet. Das ist nicht neu. Neu ist bloss die Idee, dass die digitalen Medien das Lernen revolutionieren würden. Neu und falsch.

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