"Überall Ablenkung, Zerstreuung und Bildbeschleunigung - da muss die Schule nicht auch noch einen draufsetzen", Roland Reichenbach. Bild: Universität Zürich
Schnelle Oberflächen, träge Bildung, NZZ, 9.4. von Roland Reichenbach
Ein allgemein-pädagogischer Kommentar zum
Einsatz digitaler Medien in Schule und Unterricht muss Umwege machen dürfen. In
den Kurven verliert man viel Zeit, doch wer keine Verzögerungen in Kauf nehmen
will, wird das Ziel nicht erreichen. Die «oberste, wichtigste und nützlichste
aller Regeln der Erziehung» heisse nicht: «Zeit gewinnen, sondern: Zeit
verlieren!», lautet eine vielzitierte Stelle aus Jean-Jacques Rousseaus
«Emile». Mit dem Satz kann eine Menge pädagogischer Unfug und didaktischer
Leerlauf gerechtfertigt werden. Einerseits. Andererseits kommen damit eine
Intuition, eine Einsicht und eine Erfahrung zum Ausdruck, die mehr sind als
launenhafte Lust an der Paradoxie. Die Menschen leben immer länger als die
Generationen vor ihnen, aber auch immer schneller, und überall entdecken sie
lästige Zeitverschwendung, alles dauert immer mehr zu lange. Zum Beispiel diese
Studenten: Zwei Stunden an einem schwierigen Text sitzen, das schaffen sie
nicht! Aber haben immer eine Meinung über alles, ohne sich mit der Materie
eingehend beschäftigt zu haben. Eigenartig.
Der normale Mensch glaubt zwar nicht, dass es
im Leben vor allem darum gehe, es möglichst effizient und wirkungsvoll hinter
sich zu bringen. Doch wo er tätig ist, in der Schule, Ausbildung und in der
Arbeit - mittlerweile auch in der sogenannten «Freizeit» -, scheinen genau
diese Kriterien ausschlaggebend zu sein. Ja, eigenartig. Zum Glück gibt es die
digitalen Medien, die helfen, Zeit zu sparen, schneller und wirkungsvoller zu
lernen. Wozu wäre ihr Einsatz bedeutsam, wenn nicht dazu?
Der Hund an
der Tafel
Vor einiger Zeit gab es noch schwarze Tafeln
in den Schulzimmern, dazu weisse und farbige Kreide. Ein paar Schüler hatten
«Wandtafeldienst», sie mussten die Tafeln immer wieder putzen. Deleten. Der
geschriebene Text oder die Kreidezeichnung wurden immer wieder gelöscht und
verschwanden für immer. Welche Verschwendung! Später musste das Gleiche
womöglich erneut geschrieben oder gezeichnet werden, um dann kurz drauf
wiederum gelöscht zu werden. Die Wandtafel speicherte nichts. Dafür wurde
abgeschrieben, abgezeichnet. Eine Schülerin fragte vielleicht, ob die
Überschrift «zwei Häuschen» gross sein und ob sie in Rot geschrieben werden
müsse. Ob man auch eine andere Farbe benützen könne. Ja, sagte der Lehrer vielleicht,
aber nicht gelb, das sehe man kaum. Wunderbare Ineffizienz: Der Lehrer schreibt
- Schönschrift - an die Tafel, die Klasse schreibt ab. Später werden die Hefte
korrigiert und zurückgegeben. Versehen mit kleinen Kommentaren, je nach Fehler
und Schriftbild. Oder die Klasse behandelt das Thema «Hund», die Lehrerin hat
am Vorabend einen Hund an die Tafel gemalt, das dauerte, sie hat sich Mühe
gegeben. Man erkennt, es ist ein Hund, allerdings ein mittelmässiger Hund. Am
nächsten Morgen werden die Tafelflügel geöffnet, eine Art Theatervorhang, und
der mittelmässige Hund erscheint. Die Kinder sind beeindruckt: Erstens ist es
ein Hund, zweitens möchten sie auch so zeichnen können. Später weigern sich die
beiden Knaben des Wandtafeldienstes mehrere Wochen lang, den Hund auszulöschen,
denn er wird für immer verschwinden. In der Stunde zeichnen die Kinder den Hund
in ihre Hefte, das sieht meist noch mittelmässiger aus, aber sie sind ganz bei
der Sache und geben sich Mühe, wie abends zuvor die Lehrerin. Hinsehen, um
etwas zu reproduzieren, ist etwas ganz anderes, als nur zu schauen. Doch es
gibt ja so gute Filme über Hunde, Hunderassen, Hundedressur, den vielfältige
Einsatz von Hunden für den Menschen, was man will, Tausende von attraktiven
Bildern; aber die Kinder wollen nicht, dass dieser im Grunde mickrige
Kreidehund gelöscht wird. Es ist, als ob sie mehreren Umständen Anerkennung
zollen würden: dass es diesen Hund nur einmal gibt und nur kurz, dass die
Lehrerin ihn allein für sie gezeichnet und gemalt hat (nicht für andere
Kinder), dass sie sich offenbar Mühe gegeben hat, dass sie Zeit «verloren» hat.
Sie hätte effizienter sein können, Arbeitsblätter oder ein Film wären
informativer gewesen, vielleicht hätten die Kinder auch inhaltlich mehr
gelernt. Hier aber haben sie gemerkt: Die Lehrerin investiert viel Zeit in uns,
und ganz sicher mag sie Hunde.
Lehrmittel zeigen nicht nur die Sache,
sondern geben auch Auskunft über die Beziehung zwischen der Lehrperson und den
Schülern. Sie zeigen mitunter, wie «ernst» es die Lehrerin meint. Doch das tönt
wie pädagogische Nostalgie, die nicht mehr sein soll! Gute und effiziente
Lehrmittel erübrigen diesen - scheinbaren - Fokus auf die Lehrperson, wirklich
«gute» Lehrmittel scheinen die Lehrperson selber zu erübrigen. Sie verwaltet im
Hintergrund den Einsatz digitaler Mittel, «professionell», wie es heisst, und
doch «kindzentriert», individuell angepasst und der Sache verpflichtet . . .
Das ist nur Schein, es verhält sich anders. Und nicht nur auf der Grundstufe,
vielmehr auf jeder Stufe.
Lehren ist die Kunst der Vermittlung von
Wissen und Können. Die Mittel dieser Vermittlung sind die «Lehrmittel». Die
Lehrmittel sollen den Lernprozess erleichtern, allenfalls zunächst einmal
stimulieren. Während die Lehrmittel der Welt des Sichtbaren zugehören, ist und
bleibt der Kern des Lernens unsichtbar. Zwar können wir Verhaltensweisen
beobachten, etwa das Üben, welches wir dem Lernen zuordnen, aber der Prozess
des Lernens ist unsichtbar, während das Lern-Produkt - in Grenzen - sichtbar
gemacht und bewertet werden kann. Die Funktion der Lehrmittel ist das
Sichtbarmachen dessen, was gelernt werden soll. «Klassisch» reden wir von
Anschauung. Etwas veranschaulichen heisst, ein Wissen «vor Augen» zu führen,
damit der Lerner «einsichtig» werden möge oder zumindest einen «Einblick» in
die Materie erhalte.
Die zwei Grundfunktionen von Lehrmitteln sind
die Vergegenwärtigungsfunktion und die Kommunikationsfunktion. Vergegenwärtigen
heisst Abwesendes präsent machen. In der Lehre hat diese Vergegenwärtigung
meist Abbildcharakter: ein nichtpräsenter Teil der Welt (des Wissens) wird
abgebildet, um einen Zugang zu ihm zu erhalten oder zu simulieren. Ein
Gegenstand ist allerdings erst dann verstanden, wenn der Lerner sich von diesem
Abbild lösen und die Bildlichkeit des Wissens selber erzeugen kann. Das geht
nicht ohne Imagination und Erinnerung. Schule dient dazu, die Vermögen der
Einbildung und des Erinnerns zu stärken, ohne die keine Kultur denkbar ist. Wer
sich mit einem Text beschäftigt, sieht zunächst einfach Anreihungen von sehr
vielen Buchstaben. Es ist frustrierend, wenn man die Buchstaben noch nicht
richtig kennt, die Wörter nicht schnell genug entziffern oder erraten kann,
zumindest ist es eine Herausforderung. Lange Sätze und Fremdwörter sind mitunter
der Feind der Studierenden. Doch die Buchstaben und Wörter können erst vor dem
«geistigen Auge» Bedeutung erhalten, daher ist, um beim Beispiel zu bleiben,
Lesen immer auch eine imaginative Praxis. Die meisten Erwachsenen sind mit
dieser Praxis im Alltag so vertraut, dass sie dies nicht mehr merken. Souverän
bewegen sie sich in der symbolischen Welt der geschriebenen und gesprochenen
Worte. Ihnen helfen digitale Medien sehr. Denn sie hatten zuvor gelernt, sich
einer Sache länger widmen zu können. In der zeitgenössischen
«Aufmerksamkeitsdefizitkultur» (Christoph Türcke) mag das anders aussehen.
Medien beschleunigen und zerstreuen. Die Ruhe muss vom Einzelnen kommen, von
aussen kommt sie nicht mehr. Ausser die Schule sieht ihre Aufgabe auch in der
Entschleunigung, in der Stärkung der Möglichkeit, sich auf eine Sache zu
konzentrieren.
Lernt ein Kind sprechen, später noch lesen
und schreiben, ist es aufgenommen in der Kultur der Sprachsymbole, für die es
lebenslänglich einstehen wird und mit welcher es sein Welt- und
Selbstverständnis immer weiter differenzieren und dasselbe ausdrücken lernt.
Die Arbeit am Ausdruck ist Bildung. Ihre Voraussetzung ist die
Eindrucksfähigkeit, und um diese zu stärken bzw. nicht verwelken zu lassen,
sind Lehrmittel in fast allen Bereichen des Wissens und Könnens unabdingbar.
Doch die Eindrucksfähigkeit und Bildsamkeit des Kindes muss heute auch
geschützt werden. Die Tugend des Sehens, der konzentrierten Schau, lernte man
wahrscheinlich eher noch beim mühsamen Abzeichnen eines ausgestopften Vogels
als mit Hilfe der hektischen und zahlreichen Bilder digitaler Medien, die ja
auch die kindliche Lebenswelt mittlerweile dominieren.
Rousseau im
Chatroom
Die Kommunikationsfunktion dient der
Herstellung der «Präsenz» und «Sichtbarkeit» von Personen - Lehrenden und
Lernenden. Virtuelle Lernräume ermöglichen dies zeitnah und über grosse
Distanzen und teilweise in scheinbarer Unmittelbarkeit. Nun sind mit den
digitalen Medien beide Funktionen, Vergegenwärtigung und Kommunikation, sowohl
in Effektivität und sicher auch Effizienz gesteigert und erleichtert worden.
Das ist zu begrüssen. Und das medientechnologische Potenzial wird weiter
optimiert werden können. Doch unabhängig von Vergegenwärtigung und
Kommunikation muss weiterhin gelernt - Wissen und Können angeeignet - werden,
und kein noch so raffiniertes Lehrmittel entlastet den Lerner von dieser
Aufgabe, aber es mag sie erleichtern. Erleichterung und Optimierung sind
gutzuheissen. Kritische Nachfragen beziehen sich auf unintendierte Nebeneffekte
und die Voraussetzungen günstiger Nutzung von digitalen Medien.
Technologiefolgen-Analysen gehören zu einer reflexiven Moderne. So wäre es
naiv, zu glauben, der Einsatz etwa des Internets in der Schule könnte allein
positive Effekte aufweisen. Das Internet wird für manche Aufgabestellungen in
der Schule auf eine Art und Weise eingesetzt, dass sich einem nur die Haare
sträuben. Allerdings sind Wirkungsanalysen höchst komplex, oft unmöglich, und
es darf viel behauptet werden, was der empirischen Belegbarkeit entbehrt.
Aus einer pädagogischen und
bildungstheoretischen Perspektive auf Lehre und Unterricht scheint mir der
schulisch relevante IT-Diskurs vor allem von Neomanie geprägt. Beim schulischen
Lernen kommt es vor allem auf das Üben an, und Üben ist häufig einfach nur
mühsam, d. h. mit Anstrengung verbunden. Mit oder ohne digitale Medien. Nun
sagt man zu Recht, es komme eben auf den Einsatz der digitalen Medien, auf den
Umgang mit ihnen an. Das ist aber nur eine oberflächliche, zwar gutgemeinte
Empfehlung. Es kommt vielmehr auf die Voraussetzungen der Lernenden an, ob sie
fähig sind, Sinn und Kohärenz hinter den (oft zu) schnellen Oberflächen
herzustellen. Dazu sind Imaginations- und Erinnerungsfähigkeiten sowie ein
Ethos der Anstrengung vonnöten, beim kleinen Schüler ebenso wie bei den
Studierenden. Die digitalen Medien prägen unsere Welt. Bildung bedeutet heute
umso mehr, sich von ihrer Dominanz lösen zu können.
Verständlicherweise spricht man - bildungstheoretisch - von einer Krise
der Imagination. Schule und Ausbildung sind der Ort, dieser Krise zu begegnen.
Körper und Leib spielen hier eine zentrale Rolle. Vielleicht wird die Zeit
kommen, in der im Mathematik- und im Grammatikunterricht zwischendurch
Atemübungen durchgeführt werden, Yoga- und Tai-Chi-Übungen (oder was auch
immer). Dumm wäre das nicht. Der Lerner muss zu sich kommen. Überall Ablenkung,
Zerstreuung und Bildbeschleunigung - da muss die Schule nicht auch noch einen
draufsetzen, sondern überlegen, wie die Literalität, die Arbeit am Ausdruck, im
Regime der Zeit, welches immer mehr nur noch ein Zeitregime darstellt,
geschützt werden kann. Gegen digitale Medien zu reden, ist so dumm wie
aussichtslos, ihr schulischer Einsatz ist zu begrüssen und ist eindrücklich.
Doch die träge Natur der Lern- und Bildungsprozesse ist zu respektieren. Das
hätte uns Rousseau auch in einem Chatroom eröffnet. Das ist nicht neu. Neu ist
bloss die Idee, dass die digitalen Medien das Lernen revolutionieren würden.
Neu und falsch.
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