10. Februar 2014

"Das Misstrauen zwischen Schule und Elternhaus ist eindeutig grösser geworden"

Die Primarlehrerin Marion Heidelberger (LCH-Vizepräsidentin) über die Verbürokratisierung des Schulalltags.
"Das Misstrauen zwischen Schule und Elternhaus ist grösser geworden", NZZ, 10.2. von Sabine Windlin


Wie gut ist es um die vielgelobte Kultur an den Volksschulen bestellt, wenn nur noch schriftlich kommuniziert wird und für alles eine Unterschrift nötig ist?
Durch das neue Modell der geleiteten Schulen, also den Einsatz von Schulleitern, ist es zu strukturellen Änderungen gekommen. So hat sich einiges in der Kommunikation verändert. Vieles, was früher in der alleinigen Verantwortung des Klassenlehrers lag - Beurteilung, Sanktionen, Dispensationen, Hausaufgaben usw. -, wird nun von oben definiert und gesteuert. So entstehen überall verbindliche Regelungen und standardisierte Vorgaben, was sich etwa in den vielen Papieren niederschlägt, die Schulkinder nach Hause tragen.
Nicht einmal vor der Wahl des Füllfederhalters, des Leimstifts oder der Finken macht die Bevormundung halt.
Es wird teilweise übertrieben und nicht immer Mass gehalten. Für die Schule wirkt sich solcher Aktivismus nachteilig aus, weil in der Flut der Mitteilungen nicht mehr eruierbar ist, was für einen guten Schulbetrieb wirklich relevant ist und was nicht. Es soll Lehrer geben, die teilen den Eltern sogar schriftlich mit, welches Sanktionssystem in der Schule zur Anwendung kommt. Das ist nicht nur unnötig, sondern auch kontraproduktiv. Ich will doch als Lehrerin auch nicht wissen, zu welchen Massnahmen Eltern greifen, wenn das Kind zu Hause sein Zimmer nicht aufräumt.
Überall lauern Gefahren. Lehrer argumentieren mit Datenschutz, Eltern drohen mit Anwälten. Gesellt sich zum Motto «zéro tolérance» nun auch noch die Formel «zéro confiance»?
Das Misstrauen zwischen Schule und Elternhaus ist eindeutig grösser geworden. Die Abkehr von der reinen Leistungsbeurteilung hin zu einer ergänzenden Wertung von Sozialkompetenz und Arbeitseinstellung hat dazu geführt, dass Lehrpersonen jedes noch so kleine Fehlverhalten registrieren, schriftlich festhalten und zu Hause unterschreiben lassen. Wenn ein Kind im Zeugnis einen negativen Eintrag im Bereich Sozialkompetenz erhält, sind es die Eltern, die regelrecht nach «Beweisen» schreien. Insofern tragen sie eine Mitschuld am allseits beklagten Papierkrieg.
Dieses Bedürfnis nach Beweisen und Schriftlichkeit hat das Verhältnis zwischen Schule- und Elternhaus also nicht verbessert.
Im Gegenteil. Das Verhältnis ist teilweise richtig gestört, und im Konfliktfall geht es schnell hart auf hart. Ich gebe nun seit 25 Jahren Schule. Als ich zu meiner Anfangszeit Elterngespräche führte, gab es dafür keine Vorgaben von der Verwaltung. Trotzdem habe ich mit den Eltern immer eine Lösung im Sinne des Kindes gefunden. Heute finden solche Zusammenkünfte unter Zuhilfenahme von umfangreichen Unterlagen statt, werden Striche und Kreuzchen gemacht, und man fragt sich, ob das Kind in irgendeiner Form von dieser Materialschlacht profitiert. Kontakthefte, wie sie heute vielerorts geführt und propagiert werden, um Versäumnisse der Kinder einzutragen, haben keinerlei pädagogischen Wert und sind für ein Primarschulkind kein Ansporn, sein Verhalten zu ändern. Entscheidend ist, dass eine Lehrerin ihre Linie findet und diese sowohl im Schulzimmer wie auch gegen aussen konsequent vertritt.
Statt Defizite bei den Tagesstrukturen anzugehen, wird Zeit und Geld in Kampagnen wie «gsunde Znüni» gesteckt. Sind die Prioritäten richtig gesetzt?
Aus Sicht des LCH haben die Optimierung der Tagesstrukturen und die Schaffung von öffentlichen Tagesschulen eindeutig Vorrang, weil davon die Familien unmittelbar profitieren. Was die erwähnten Kampagnen anbelangt, geht die Initiative nie von der Lehrerschaft aus, sondern von Gemeinden, Firmen und Stiftungen, die sich die Gesundheitsprävention an den Schulen auf die Fahne geschrieben haben und ihre Anliegen teilweise recht penetrant ins Schulzimmer tragen. Hier bedarf es dringend einer kritischen Haltung der Lehrperson. Denn nicht überall wo «gesund» und «sportlich» draufsteht, ist gleich Handlungsbedarf angesagt.
Ist es Übereifer oder Unsicherheit, wenn gestandene Lehrer Mütter und Väter auffordern, Fragen, die am Elternabend gestellt werden möchten, vorab schriftlich einzureichen?
Viele Lehrer sind verunsichert, haben Angst, einen Fehler zu machen, und einen Bammel, bei einem Elternabend Red und Antwort zu stehen. Eltern sind in den Augen der Lehrer häufig eine Art Schreckensgespenst, das vor allem Ärger macht, und nicht ein Gegenüber, mit dem man vernünftig diskutieren kann. Aus diesem Grund lernen heute angehende Lehrerinnen und Lehrer an den pädagogischen Hochschulen, wie der richtige Umgang mit (schwierigen) Eltern gelingt und auf welche Probleme man sich einstellen muss.
Die Lehrerschaft klagt, dass vor lauter Administration das Unterrichten zu kurz komme. Ist sie daran auch selber schuld?

Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass im Schulbetrieb oft auch über weniger wichtige Sachverhalte stundenlang in Sitzungen diskutiert wird. Mit dieser Aussage mache ich mich zwar nicht beliebt, aber jeder, der die jahrelangen Teamsitzungen miterlebt hat und in Arbeitsgruppen Einsitz genommen hat, weiss, dass es so ist.

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