Niemand wünscht sich dumme oder
freche Schüler. Aber in der Realität
sind sie da und sitzen in den Klassenzimmern. Das nennt sich „Integration“.
Schön und edel dabei ist, man will niemanden ausstossen. Nichts gegen
Unterstützung, Lernhilfe und Therapien für kranke Kinder. Das ist notwendig und
steht hier gar nicht zur Diskussion. Die Planung geht aber in eine andere
Richtung: Der Lehrer oder die Lehrerin
ist nicht mehr allein zuständig für eine Klasse, da gibt es neu nämlich eine
Flut von Teilzeitlehrerinnen, die um ein Stück des Betreuungskuchens
kämpfen. Dabei wird die Verantwortung pulverisiert
– eine fatale Entwicklung für unsere Schule.
Versuchen wir den Ball flach zu
halten. Die Integration wurde eingeführt als Folge davon, dass sich die IV aus
der Finanzierung der Therapien zurückzog. Die schöne neue Schulwelt ist kein
Produkt pädagogischer Reflexion, sondern entspringt einer Sparübung. Sie wurde
von den Lehrern nicht gefordert, im Gegenteil, sie wurde der Schule
notfallmässig aufgezwungen. Wie stark
den Initianten und Propagandisten der „Integration“ ihr Projekt entglitten ist,
zeigt nur schon die Tatsache, dass sie es nicht schaffen, ihr Konzept auf einen
gültigen Namen festzulegen. Integration ist der Begriff der ersten Stunde. Eine
sehr ungeschickte Wahl, denn mit Integration ist ja die Einbettung von
Zugezogenen ins Alltagsleben der Schweiz gemeint. Die zweite Wortschöpfung
"integrative Förderung" ist eine Notlösung, um über diese peinliche
Begriffskollision hinwegzutäuschen. Doch schon heute wird immer häufiger vom
Fachbegriff Inklusion gesprochen. Verwirrung total.
Jeder Kanton hat in letzter
Zeit ein eigenes Reglement für die Integration von lernbehinderten oder
lernschwachen Kindern erstellt. Dies geschah unabhängig von der Frage, was es
überhaupt bringt, Lernbehinderte in eine Regelklasse zu integrieren. Ob die
Kinder dank ihrer neuen Lernumgebung tatsächlich auch mehr lernen, ist nämlich
noch gar nie untersucht worden. Richtig, die vielgepriesene „Integration“ ist
letztlich ein Experiment, mit unseren Kindern als unfreiwilligen
Versuchskaninchen. Innerhalb der Kantone
kommt es häufig zu Unterschieden in der praktischen Umsetzung von Gemeinde zu
Gemeinde. Das Angebot steuert die Nachfrage. Integration kostet viel Geld bei
zweifelhaftem Nutzen. Was daran so fortschrittlich und erstrebenswert sein
soll, ist mir schleierhaft. Damit aber nicht genug: Selbst unser neugewählter
EDK-Chef Christoph Eymann steht nicht mehr hinter diesem Konzept, wie er
kürzlich in der NZZ am Sonntag kundtat. Mit Eymann geht ein pointierter
Promotor des Systems auf Distanz und fordert die Möglichkeit, schwierige
Schüler wieder in separierten Kleinklassen unterrichten zu können.
Es sieht ganz so aus, als ob das Experiment
„Integration“ misslungen sei. Das finden auch Leute wie Thomas Baumann,
Kinderarzt und Buchautor. Für ihn ist die integrative Förderung nicht mit
unseren nach dem Leistungsprinzip aufgebauten Schulen vereinbar. Das Prinzip
der Eingliederung hat in der Praxis bereits zu absurden Verschiebungen geführt. Während
möglichst viele Kinder in Regelklassen integriert werden, steigt gleichzeitig
auch die Zahl der Betreuungsfälle in Sonderschulen. Im Schuljahr 2005/06, also vor der Einführung der
schulischen Integration, wurden im
Kanton Bern drei Kinder mit Asperger-Syndrom unterstützt, fünf Jahre später und
nach dem Aufbau eines Heeres an Therapeutinnen waren es 142! Zwischen den Jahren 2000 und 2010 ist die
Zahl der Sonderschüler im Kanton Zürich um 65 Prozent gewachsen. Der
Speckgürtel der Betreuung dehnt sich aus und droht, die Schulen im Therapiewahn
zu ersticken. Dieses System ist unfähig geworden, sich selbst zu reformieren. Darum
braucht es keine
Lobhudeleien mehr, von denen haben wir schon zu viele gehört. Wir müssen
innehalten und retten, was noch zu retten ist.
Urs Kalberer
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen