28. August 2013

Legales Schwänzen

Ein Morgen gegen Ende des vergangenen Schuljahrs: Ein Viertel der Schüler fehlt im Unterricht. Sie sind nicht krank, sie schnuppern nicht in einem Betrieb und haben auch nicht verschlafen. Ganz legal sind sie zuhause und beziehen einen Jokertag. Es fällt auf, dass Schüler ihre ­Jokertage häufig mit Einwilligung der Eltern einlösen. Sie wollen ausschlafen oder dem Unterricht kurz vor Noten­abschluss fern bleiben. Ohne Begründung sind Jokertage jederzeit einsetzbar und können von den Lehrkräften nicht verweigert werden. Nicht nur die Schüler freuen sich darüber, die Eltern sparen Geld mit günstigeren Ferientarifen und die Schulbehörden glauben, weniger lästige Gesuche bearbeiten zu müssen. Da in Graubünden Absenzen nicht im Zeugnis erscheinen, sind auch keine Langzeitfolgen zu befürchten. Gelobt seien die Jokertage! Der Erfinder sollte eigentlich gefeiert und Schulhäuser nach ihm benannt werden. Denn Jokertage sind schweizweit ein Hit!
Es gibt aber auch die andere Seite der Medaille.  Da wäre zuerst der Name: Ein Joker ist etwas, was sich in Zukunft als nützlich erweisen könnte – ein lachender Sieger, der gewinnt ohne dafür etwas zu leisten. Das sollte eigentlich misstrauisch machen. Denn grundsätzlich soll die Schule doch auf das Leben vorbereiten. Ist ausschlafen da eine Kernkompetenz? Ist es nicht paradox, wenn Lehrmeister Einsatz, Motivation und Disziplin einfordern, die Schule aber legales Schwänzen im Programm führt? Ist es nicht paradox, die Lehrer immer besser (und teurer) auszubilden und es gleichzeitig den Schülern zu überlassen, ob sie den Unterricht auch besuchen? Hier spiegelt sich eine bedenkliche Laissez-faire-Haltung: Ein bisschen Schule mehr oder weniger kommt doch nicht drauf an. Die verpassten Lektionen summieren sich und untergraben letztlich die Arbeit der Lehrpersonen. Kein Wunder laufen diese seit der Einführung Sturm gegen die Jokertage. Ist es nicht paradox, wenn die Schulen grossen Aufwand zur Verbesserung der Schulqualität betreiben, gleichzeitig aber diese Qualität aushöhlen mit der Botschaft: Ihr könnt ruhig ab und zu fehlen.
Jokertage gehören zur pädagogischen Infrastruktur einer „modernen“ Schule. Niemand möchte doch so altmodisch sein und nicht mitreiten auf dieser Welle der erzieherischen Bequemlichkeit. Die Verantwortung ist schnell abgeschoben – der Kanton erlaubt’s, die Nachbargemeinde macht’s und schliesslich wollen wir fortschrittlich sein. Jokertage sind aber weder fortschrittlich noch originell. Sie gehören in die wachsende Sammlung moderner pädagogischer Irrtümer. Sie sind unnötig, es gibt keinen Klassenlehrer, der ein begründetes Urlaubs-Gesuch ablehnen würde. Und bei Unwohlsein stehen den Eltern ja auch ohne Jokertage alle Türen offen, ihr Kind zu Hause zu lassen. Bald werden wir nicht mehr über Jokertage diskutieren, sondern uns über den zunehmenden Absentismus wundern. Welche Gemeinde hat endlich den Mut, mit dieser falsch verstandenen Freiheit aufzuhören?




Die Schule bereitet auf die Arbeitswelt vor, Bild: hotnewsblog.net

Der Text ist auch veröffentlicht in der Online-Ausgabe der Südostschweiz

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen