Ein Morgen gegen Ende des vergangenen
Schuljahrs: Ein Viertel der Schüler fehlt im Unterricht. Sie sind nicht krank,
sie schnuppern nicht in einem Betrieb und haben auch nicht verschlafen. Ganz
legal sind sie zuhause und beziehen einen Jokertag. Es fällt auf, dass Schüler ihre Jokertage häufig mit
Einwilligung der Eltern einlösen. Sie wollen ausschlafen oder dem Unterricht
kurz vor Notenabschluss fern bleiben. Ohne Begründung sind
Jokertage jederzeit einsetzbar und können von den Lehrkräften nicht verweigert
werden. Nicht nur die Schüler freuen sich darüber, die Eltern sparen Geld mit
günstigeren Ferientarifen und die Schulbehörden glauben, weniger lästige Gesuche bearbeiten zu müssen. Da in Graubünden
Absenzen nicht im Zeugnis erscheinen, sind auch keine Langzeitfolgen zu
befürchten. Gelobt seien die Jokertage! Der Erfinder sollte eigentlich gefeiert
und Schulhäuser nach ihm benannt werden. Denn Jokertage sind schweizweit ein
Hit!
Es gibt aber auch die andere Seite
der Medaille. Da wäre zuerst der Name: Ein
Joker ist etwas, was sich in Zukunft als nützlich erweisen könnte – ein lachender
Sieger, der gewinnt ohne dafür etwas zu leisten. Das sollte eigentlich
misstrauisch machen. Denn grundsätzlich soll die Schule doch auf das Leben
vorbereiten. Ist ausschlafen da eine Kernkompetenz? Ist es nicht paradox, wenn
Lehrmeister Einsatz, Motivation und Disziplin einfordern, die Schule aber
legales Schwänzen im Programm führt? Ist es nicht paradox, die Lehrer immer
besser (und teurer) auszubilden und es gleichzeitig den Schülern zu überlassen,
ob sie den Unterricht auch besuchen? Hier spiegelt sich eine bedenkliche
Laissez-faire-Haltung: Ein bisschen Schule mehr oder weniger kommt doch nicht
drauf an. Die verpassten Lektionen summieren sich und untergraben letztlich die
Arbeit der Lehrpersonen. Kein Wunder laufen diese seit der Einführung Sturm
gegen die Jokertage. Ist es nicht paradox, wenn die Schulen grossen Aufwand zur
Verbesserung der Schulqualität betreiben, gleichzeitig aber diese Qualität
aushöhlen mit der Botschaft: Ihr könnt ruhig ab und zu fehlen.
Jokertage
gehören zur pädagogischen Infrastruktur einer „modernen“ Schule. Niemand möchte
doch so altmodisch sein und nicht mitreiten auf dieser Welle der erzieherischen
Bequemlichkeit. Die Verantwortung ist schnell abgeschoben – der Kanton
erlaubt’s, die Nachbargemeinde macht’s und schliesslich wollen wir
fortschrittlich sein. Jokertage sind aber weder fortschrittlich noch originell.
Sie gehören in die wachsende Sammlung moderner pädagogischer Irrtümer. Sie sind
unnötig, es gibt keinen Klassenlehrer, der ein begründetes Urlaubs-Gesuch
ablehnen würde. Und bei Unwohlsein stehen den Eltern ja auch ohne Jokertage
alle Türen offen, ihr Kind zu Hause zu lassen. Bald werden wir nicht mehr über
Jokertage diskutieren, sondern uns über den zunehmenden
Absentismus wundern. Welche Gemeinde hat endlich den Mut, mit dieser
falsch verstandenen Freiheit aufzuhören?
Die Schule bereitet auf die Arbeitswelt vor, Bild: hotnewsblog.net
Der Text ist auch veröffentlicht in der Online-Ausgabe der Südostschweiz
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