Das weisse Hemd handbreit
geöffnet, darunter schimmert die glattrasierte, à point gebräunte Brust
hervor. Volle Lippen, Augen in Marlene-Dietrich-Blau, die Haarspitzen
touchieren zart die Schultern. Das ist nicht «Germany’s Next Topmodel», sondern
Deutschlands bekanntester Philosoph, Richard David Precht, Bestsellerautor von
«Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?» und TV-Moderator.
Monatlich erklärt Precht im
ZDF die Welt im intimen Zwiegespräch. Da geht es um Vegetarismus («Dürfen wir
Tiere essen?») oder um Fitnesswahn («Der getunte Mensch»), und zur Anmoderation
schaut uns ein besorgter Mann mit Goldglanz im frisch geföhnten Haar entgegen,
das Ansteckmikrofon abgestimmt auf den Farbton des Hemdes, und sagt: «Noch nie
in der Geschichte haben sich Menschen so sehr mit sich selbst und ihrem Körper
beschäftigt wie heute. Wir optimieren unser äusseres Erscheinungsbild, unsere
Gesundheit und demnächst vielleicht sogar unsere Gene.»
Da hüpft das Hirn der Annabelle-Leserin,
während der TV-Philosoph das Thema gleich noch ins Gesellschaftspolitische
stemmt. «Passen Selbstoptimierung und Solidarität mit anderen zusammen? Oder
werden wir immer asozialer?» Bei Richard David Precht bekommt das Wort
Schönschwätzer eine ganz eigene Note, sein ebenfalls langmähniger Berufskollege
Peter Sloterdijk hat ihn mit dem Populärgeiger André Rieu verglichen. Was der
von Precht verdrängte frühere ZDF-Hausphilosoph damit sagen wollte: Sein
Nachfolger tänzelt bestenfalls im Walzerschritt durch die Geisteswelt, richtig
ernst nehmen kann ihn keiner, der wirklich vom Fach ist. Pflegt hier der
gekränkte Sloterdijk seinen Standesdünkel? Oder ist er einfach ehrlicher als
die meisten anderen?
Nun hat der Star-Intellektuelle
Richard David Precht ein neues Buch vorgelegt: «Anna, die Schule und der liebe
Gott». Darin geht es um eine fundamentale Kritik am (deutschen) Schulsystem,
das die Kinder zu «langweiligen Anpassern» dressiere, statt ihre Intelligenz
und Kreativität zu fördern. Eine Bildungsreform genügt ihm nicht mehr. Das
Land brauche eine «echte Bildungsrevolution», die «unsere Schulen besser,
freundlicher, sozial gerechter und effizienter macht». Und wieder braucht sich
der Autor um Häme nicht zu sorgen. Die Welt nannte das Buch ein «sinnloses
Ärgernis». Der «Lifestyle-Philosoph» (Frankfurter Allgemeine) mit
«Belehrungsimpuls» (Spiegel) hatte schon zur Premiere seiner ZDF-Sendung
die Bildung und damit sein späteres Buch zum Thema gemacht: «Macht Lernen
dumm?», fragte er sich und den Hirnforscher Gerald Hüther. Die weitgehend kontroversfreie
Diskussion der beiden Schulkritiker veranlasste die Zeit zur knappestmöglichen
Antwort: Nein, «Precht macht dumm».
Immer wenn das Feuilleton
so einmütig zur Verdammnis schreitet, ist zumindest Vorsicht geboten, zumal für
Richard David Precht sein eindrücklicher Erfolg spricht: Auch das neue Buch ist
schon nach wenigen Verkaufstagen in die Top Ten der Bestenliste vorgestossen.
Bildung beschäftigt. Geschrieben hat Precht die Streitschrift, wie er
einleitend festhält, für Lehrer, Schüler, Eltern und «nicht zuletzt für
Bildungspolitiker». Dabei möchte er «alte Freund-Feind-Linien» überwinden, «Mut
zum Träumen» geben und nebenbei die Welt oder wenigstens Deutschland verändern:
«Ich möchte zeigen, dass eine neue Form der Bildung und des Bildungssystems
ohne Zweifel zugleich eine andere Gesellschaft erzeugen wird.»
Wie so oft, wenn
Intellektuelle die Gesellschaft verändern wollen, reiten sie zuerst eine Attacke
gegen die bestehende Ordnung. In diesem Fall gegen das «althergebrachte
Klassenzimmer-Modell». Die historischen Gründe, schreibt Precht, «die den
Frontalunterricht, die Fünfundvierzig-Minuten-Taktung, das Unterrichten nach
Jahrgängen und die Notwendigkeiten von Zensuren, Klausuren und Hausarbeiten
einmal auf den Plan gebracht haben, sind eben dies: historisch». Aus einer Zeit
stammend, in der fleissige Industriearbeiter gebraucht wurden, die sich brav
dem Takt der Maschinen unterzuordnen hatten. Mit dem 19. Jahrhundert habe unsere Gegenwart jedoch nichts mehr zu tun, meint
Precht – was ihn nicht hindert, im folgenden Kapitel ausgiebig über Wilhelm von
Humboldt (1767–1835),
Mitgründer der Berliner Universität, und dessen Bildungsideal zu
schwadronieren. Auch sonst geizt der Honorarprofessor für Philosophie und
Ästhetik nicht mit historischen Analogien. Offenbar nimmt nicht einmal Precht
Prechts Thesen ernst.
Doch was überhaupt ist
Bildung? Der Autor wehrt sich gegen die Gleichstellung von Bildung und Wissen,
bloss um sich vom Ungebildeten unterscheiden zu können oder bei Günther Jauchs
«Wer wird Millionär?» zu reüssieren. Er trifft einen empfindlichen Punkt, wenn
im Buch die sinnlose Faktenschinderei an den Schulen kritisiert wird.
Unterricht als Durchlauferhitzer, wo Kinder zeitgenau für eine Prüfung
wiederkäuen müssen, was ihnen zuvor eingetrichtert wurde. Schulwissen, das
gleich wieder verdämmern wird. Oder wie war das schon wieder im Französischen
mit dem futur simple und dem subjonctif? Oder wer
könnte noch freihändig eine Differenzialgleichung anwenden? Auf höchstens fünf
Prozent wird das Restwissen beziffert, das die aktive Schulzeit überdauert.
Mehr wird allerdings auch nach der Lektüre von «Anna, die Schule und der liebe
Gott» nicht hängenbleiben.
Die Frage steht immer noch
im Raum: Was ist Bildung? Precht fällt es eindeutig leichter, zu definieren,
was Bildung nicht ist: «Wer in Gesellschaft Goethe zitiert, macht zwar von
seinem Gedächtnis Gebrauch, verrät aber noch nicht zwingend Bildung.» Nachdem
sich der TV-Philosoph im ersten Kapitel ausgiebig über «Bildungsspiesser» und
«Bildungshuberei» ausgelassen hat, macht er sich umgehend daran, auf den
nächsten dreihundert Seiten seinen inneren Bildungshuber von der Leine zu
lassen.
Kaum ein Abschnitt ohne
Verweis auf eine Autorität aus Forschung und Wissenschaft: Da werden der
US-amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin und sein Buch «Das Ende der Arbeit und
ihre Zukunft» zitiert (S. 176), darauf
der Nobelpreisträger Robert Merton Solow (S. 177), dann
eine Untersuchung des Politologen Robert E. Lane (S. 178) über die Selbstregulationskraft der modernen Wissensgesellschaft,
und schon geht es weiter über den Sozialphilosophen André Gorz zum
Soziologen Robert K. Merton und
dessen «Wissenskommunismus» (S. 179). Nach
einer kleinen Verschnaufpause bei den Gebrüdern
Humboldt und bei Hegel (S. 180) jagt
Precht wieder durch die akademische Buchstabenwelt eines Peter F. Drucker und Matthias Horx (S. 181), und so
geht es Seite um Seite, Kapitel um Kapitel. Insofern kann man das Buch
pädagogisch wertvoll nennen: Ungefähr so
müssen sich Schüler im Klassenzimmer vorkommen, wenn sie von Fach zu Fach
stolpern und mit «Stoff» zugeballert werden.
Der zweite Teil des Buches
widmet sich dann der eigentlichen «Bildungsrevolution» – wobei die prechtsche
Revolution deutsch und gründlich als «10 Prinzipien» daherkommt. Und schon
geht’s los im Gleichschritt: Zunächst dürfe «die intrinsische Motivation des
Kindes» nicht zerstört, sondern sie müsse gepflegt werden. Die Kleinen können
ihren eigenen Interessen folgen und dürfen sich dabei «auch mal langweilen».
Dann soll man die Schüler
«individuell lernen lassen» (Prinzip 2) und ihnen weniger Stoff
verfüttern, vielmehr «das Verstehen von Sinn und Sinnlichkeit der Dinge und der
Zusammenhänge» fördern (Prinzip 3). Die nächsten drei Punkte befassen
sich mit der Herausbildung einer Schulgemeinschaft, in der Kinder
Freundschaften schliessen und ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln können,
Lehrer und Schulleitung eine «Beziehungs- und Verantwortungskultur» schaffen,
«Werte und Wertschätzung» pflegen und aus jedem «Lernhaus» (Precht-Deutsch für
Schulhaus) eine besondere Bildungseinrichtung machen. Prinzip 7 ist wieder
handfester: Eine «lernfreundliche Schularchitektur» mit einem Campus als
Mittelpunkt soll für «ein Netzwerk an architektonischen Beziehungen» sorgen.
In diesem Umfeld sollen die
Schüler ihre «Konzentrationsfähigkeit trainieren» (Prinzip 8). Kinder
würden von Reizen überflutet und überfordert. Je mehr die Elternhäuser hier
versagten, «umso wichtiger wird die Aufgabe der Schule, für Konzentration und
Stille zu sorgen». Da mag Precht nicht unrecht haben. Gleichzeitig aber will er
die Jahrgangsklassen abschaffen, eine offene Lernarchitektur, Teamunterricht,
individuelles Lernen und eine «integrative Schule», die das fremdsprachige
Zuwandererkind mit dem Wohlstandslümmel in Ganztagesschulen (Prinzip 10)
ohne persönliche Leistungsnoten (Prinzip 9) zusammenpfercht. Ob mit dieser
Mischung die Schule zur Ruhe findet und die Kinder darin ihre
Konzentrationsfähigkeit entdecken?
Man kann es auch so sagen:
Richard David Precht will die unmögliche Schule – und seine
«Bildungsrevolution» entpuppt sich als wiederaufgekochtes Reformsüppchen aus
sozialdemokratischer Küche: gleiches System für alle, alle für das gleiche
System. Bis zuletzt gibt Precht den antibürgerlichen Bildungsbürger, beklagt
die «Kleinstaaterei» in der deutschen Bildungspolitik und erinnert zum Schluss
nochmals an Wilhelm Humboldt, der eben auch «nicht nur bilden, sondern
Staatsbürger bilden wollte». Man kennt die alte deutsche Sehnsucht: Wieder
einmal soll es die preussische Pille aus starkem Staat und uniformer
Gesellschaft richten. Unbeabsichtigte Nebenwirkungen (DDR und Drittes Reich
lassen grüssen) nicht ausgeschlossen.
Quelle: Weltwoche, 18/2013 von Peter Keller
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