16. Januar 2013

Kulturelle Unterschiede bei der Abgabe von Ritalin


Nicht einmal Kinderärzte können genau begründen, warum immer mehr Ritalin abgegeben wird. Der am Kinderspital Zürich tätige Arzt Oskar Jenni begrüsst deshalb den Kantonsratsbeschluss, weitere Daten sammeln zu lassen.
Eine Studie der Zürcher Hochschule für Wissenschaften stellt der Wirksamkeit von Ritalin bei Aufmerksamkeitsstörungen von Kindern und Jugendlichen ein gutes Zeugnis aus. Dennoch hat sich der Kantonsrat am Montag für vertiefende Erhebungen zur Ritalin-Abgabe ausgesprochen. Welchen Punkten müsste man sich dabei in erster Linie annehmen?
Es ist richtig, dass der Kantonsrat nochmals nachhakt und eine weitere Analyse verlangt, weil Ritalin nicht nur eine medizinische, sondern auch eine gesellschaftliche Dimension hat. Nach wie vor mangelt es an Daten zum Alter der behandelten Kinder, zur Diagnosepraxis von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) und zum Behandlungszeitraum mit Ritalin.
Tatsache ist, dass die Abgabe von Ritalin stetig zunimmt. Müsste die Verschreibungspraxis nicht auf spezialisierte Fachleute beschränkt werden?
Dieser Schluss scheint mir zu voreilig, weil es generell zu wenig medizinische Fachleute gibt, die sich mit Verhaltens- und Entwicklungsstörungen von Kindern beschäftigen. Zuerst müssen wir der zentralen Frage auf den Grund gehen, weshalb heute mehr Ritalin verschrieben wird als früher.
Welches wären mögliche Erklärungen?
Eine Hypothese wäre, dass viele Ärztinnen und Ärzte kompetenter geworden sind, die Diagnose ADHS zu stellen, die auf subjektiver Verhaltenseinschätzung basiert. Gerade weil die Diagnose aber auf einer subjektiven Einschätzung ohne Biomarker oder zuverlässigen Test beruht, steht sie auch in einem Spannungsfeld gesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Und es stellt sich die Frage, ob sich die Erwartungen, was als normal und was als auffällig gilt, in den letzten Jahrzehnten nicht verändert haben.
Diesbezüglich gibt es ja auch kulturelle Prägungen, und die schlagen sich offenbar in der Diagnose-Häufigkeit nieder.
Vergleicht man die Zahlen, so sieht man tatsächlich Unterschiede. In den USA liegt die Prävalenzrate bei etwa 7 Prozent, in Europa und Asien bei 5 Prozent. Nur schon innerhalb der Schweiz gibt es grosse Unterschiede. Im Tessin wird bei weniger Kindern ADHS diagnostiziert als in der Deutschschweiz und weniger Ritalin verschrieben. Die Verschreibepraxis hängt unter anderem davon ab, wie viel Abweichung von der Norm eine Gesellschaft zulässt.
Gerade Lehrpersonen haben klare Vorstellungen davon, wie sich die Schüler im Unterricht zu verhalten haben. Kinder, denen es schwer fällt, sich zu konzentrieren, stören den Schulbetrieb. Haben sich diese Anforderungen verändert?
Wir stellen fest, dass ein zunehmender Bedarf an medizinischen Diagnosen besteht. Eine Diagnose kann Eltern und Lehrpersonen tatsächlich sehr entlasten und zu den notwendigen therapeutischen Massnahmen führen. Andererseits besteht eine gewisse Gefahr der Stigmatisierung und für einfache und schnelle therapeutische Lösungen, zum Beispiel mit Ritalin.
Sind Kinder generell unruhiger geworden? Die Möglichkeiten, sich auszutoben, sind kleiner geworden. Manche werden mit dem Auto zur Schule gefahren, andere verbringen die Freizeit vor dem Computer.
Dieser Zusammenhang scheint naheliegend zu sein. Kinder haben in der heutigen Zeit - im wahrsten Sinne des Wortes - weniger Freiraum. Wissenschaftlich ist ein Zusammenhang zwischen Hyperaktivität und geändertem Freizeitverhalten von früher und heute aber nicht bewiesen.
Welche ökonomischen Interessen stecken hinter dem Thema Ritalin?
Sowohl die Pharmaindustrie wie auch Fachpersonen haben ein gewisses Eigeninteresse, das reflektiert sein muss. Nur schon, dass das Thema ADHS in den letzten Tagen in den Medien war, gibt uns Fachpersonen eine Plattform für unsere Interessen. Die Interessen der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien müssen aber im Vordergrund stehen, und in individuellen Fällen gibt es ein Dafür und Dagegen bei Ritalin.
Wie sollen Eltern reagieren, wenn sie kritisch angeschaut werden, weil sie ihren Kindern Ritalin verabreichen?
Ich möchte betonen, dass Familien nicht grundlos zum Ritalin greifen. Wenn einer medikamentösen Behandlung umfassende medizinische Abklärungen vorausgegangen sind, dann ist Ritalin eine mögliche therapeutische Option. Das Problem ist die polarisierende Diskussion, die Schwarz-Weiss-Malerei, mit der man der Störung eben gerade nicht gerecht wird, weil sie derart komplex und heterogen ist.
Was würde zu einer Entpolarisierung der Diskussion beitragen?
Die Gesellschaft darf nicht erwarten, dass die Kindermedizin sowie die Kinder- und Jugendpsychiatrie die abschliessenden Antworten zur Herkunft und zum Umgang mit ADHS liefern. Die Diskussion übersteigt die medizinische Dimension, denn letztlich geht es auch um die Frage, welche Erwartungen wir an unsere Kinder haben und welche Rahmenbedingungen wir für ihr Leben einrichten.
Quelle: NZZ, 16.1.

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