10. Januar 2013

Hohe Schule des pädagogischen Blablas

In der jüngsten Ausgabe der Weltwoche setzt sich Lucien Scherrer mit dem Drang der PH nach akademischen Weihen und Forschung zur Selbstverwirklichung auseinander. Fazit: Weniger wäre mehr: weniger Abgehobenheit, weniger Pseudowissenschaft, weniger Einbildung.


Als die Pädagogische Hochschule Zürich (PHZH) im letzten September ihren neuen Campus in der Grossüberbauung Europaallee nahe des Hauptbahnhofs einweihte, war die Befriedigung spürbar. Es sei der schönste Tag seiner Karriere, sagte Rektor Walter Bircher. Endlich hatte die PH den Platz, der ihr gebührt: gross, ­visionär, von internationaler Ausstrahlung. Doch die Freude währte nur kurz. Da das Gebäude nach strengsten Minergie-Standards gebaut ist, wird das Klima durch eine kontrollierte Lüftung geregelt, die Fenster lassen sich nicht öffnen. Wegen akuter Lufttrockenheit klagten Dozenten über Juckreiz und Schwindelanfälle. Aussen Glanz, innen Mief: Der Prestigebau wurde zur Lachnummer. Ein Bild mit Symbolcharakter?
Die pädagogischen Hochschulen (PH) – aktuell gibt es deren 15 – sind vor zehn Jahren angetreten, die rund 150 Lehrerseminare im Land zu ersetzen. Ihr Auftrag ist simpel: Studenten zu Lehrkräften ausbilden, die im Schulzimmer reüssieren.
Doch die PH sind heute viel mehr als kommune Lehrerschulen. Sie leisten sich Forschungsgruppen, lassen ihre Studenten Arbeiten über «Humor» oder «Gender» schreiben und verleihen ihnen Titel wie «Master» und «Bachelor». Dass die Ausbildung einen universitären Touch erhielt, entspricht dem ­Willen der Politik. So schreibt die eidgenössische Konferenz der Bildungsdirektoren (EDK) vor, dass auch noch die kleinste PH Forschung ­betreiben muss, um anerkannt zu werden. Ob das der Lehrerausbildung gut bekommt, ist seit den Anfängen des PH-Systems umstritten. Anhänger der alten Lehrerseminare warnen vor einer Akademisierung, die den praktischen Geist der Lehrerseminare ersticken ­werde. Die SVP forderte vor einem Jahr gar die Einführung einer «Lehrer-Lehre» ohne ­pädagogische Hochschulen, fand aber kaum Widerhall.
Die PH selbst versichern, dass sie die Bodenhaftung nicht verloren hätten. Es sei ein «Gerücht», dass die Ausbildung theoretischer geworden sei, schrieb der Tages-Anzeiger kürzlich über die PH Zürich, wo mittlerweile 3000 ­Studenten (80 Prozent davon sind Frauen) ­unterrichtet werden. «Unsere Studenten verbringen heute über einen Viertel ihrer Ausbildungszeit im Klassenzimmer», sagt Rektor Walter Bircher, «das ist mehr als doppelt so viel wie zu Lehrerseminar-Zeiten.» Gleichzeitig liefere die Ausbildung ein solides theoretisches Fundament, ohne das der Alltag nicht zu meistern sei, erklärt der gelernte Primar- und Gymna­siallehrer. «Wenn ein Maurer auf einem Untergrund mauern muss, den er nicht kennt, braucht er theoretisches Grundwissen.» Die grosse Frage ist, wie es um die Verknüpfung von wissenschaftlichem Überbau mit der Basis steht: Taugt das, was an theoretischer Bildung vermittelt wird, im Alltag? Kümmert sich der akademische Apparat um das, was an der Basis läuft? Auf derartige ­Fragen antworten viele «Ehemalige» mit ­einem klaren «Nein». «Das Motto lautet: ‹Je wissenschaftlicher, desto besser›», sagt eine Lehrerin aus dem Zürcher Unterland. «In den Vorlesungen gab es wahnsinnig viel theo­retisches Blabla, dessen Sinn mir bis heute ­schleierhaft ist.»
Rund 500 Dozenten unterrichten an der PH, wie viele davon das Prädikat «Praktiker» verdienen, ist umstritten. Gemäss Walter Bircher verfügen mehr als 80 Prozent über ein Lehrerdiplom und haben auch unterrichtet. Das gibt ­jedoch kaum Aufschluss darüber, wie lange diese Erfahrung dauerte und wie lange sie her ist. Die oben zitierte Lehrerin schätzt, dass «höchstens ein Drittel» die heutige Realität im Klassenzimmer wirklich kennt.
Sie ist nicht die Einzige, die sich an weltfremden Modulen und Dozenten stört. Ein 45-jähriger Lehrer, der als Quereinsteiger an die PH kam, erinnert sich an «schöngeistige Theorien» und «Gspürschmi-Module». Neben der Übung «Ertaste mit den Füssen Gegenstände in einem Sack» musste er ein «Gender-Modul» besuchen, von dem ihm einzig geblieben ist, dass es auf der Welt offenbar zwei Geschlechter gibt und dass eines davon weiblich ist. Wer in der Schlussarbeit nicht konsequent von «Schülerinnen und Schülern» sprach, musste die Arbeit wieder­holen. Die Vorbereitung auf den Alltag – etwa auf den Umgang mit schwierigen Schülern – sei dagegen «lachhaft» gewesen. «Man hat uns eingetrichtert, dass man die Schüler mit ‹Ich-­Botschaften› in den Griff bekäme, also mit ­Sätzen wie: ‹Du, ich finde es nicht gut, dass du immer dreinredest.›» Im Klassenzimmer habe er schnell gelernt, dass das nicht funktioniere. «Wenn ich so mit Schülern rede, lachen sie mich aus und sagen: ‹Ist der schwul oder was?›»
Ähnliche Erfahrungen machte ein 28-jähriger Lehrer, der 2010 abgeschlossen hat. «Es gibt unter den Dozenten ein paar Lichtfiguren, aber die meisten folgen einem Mainstream, der antiautoritäre Erziehungsideale hochhält», sagt er. «Aber kaum jemand wagt es, ihnen zu widersprechen.» Mathematikformeln oder Rechtschreibung und Grammatik zu pauken, sei in dieser Gilde verpönt und ­gelte als geistlos, alles müsse «kreativ» sein und «spielerisch» erlernt werden. «Dabei», meint der Junglehrer, «sind schwache Schüler mit solchen Konzepten überfordert.»
Gerade Lehrerinnen und Lehrer, die nach der PH im rauen Alltag von Sek-B- oder ­Sek-C- Schu­len landen, erleben zuweilen einen Schock. «Wir hatten Studenten, die nach zwei Tagen heulend aus dem Klassenzimmer kamen», sagt Hanspeter Amstutz, ein erfahrener Sek-B-Lehrer an der Sekundarschule Effretikon. «An der PH hatte man ihnen eingeschärft, dass sie auf keinen Fall Frontalunterricht geben sollen, aber mit ihrem ‹offenen› Unterricht sind sie kläglich aufgelaufen.» Amstutz wirft der PH vor, Dogmen zu verbreiten, statt über Erfahrungen aus der Praxis zu diskutieren, wie man das früher in den Lehrerseminaren getan habe. «Die Dozenten mauern sich ein und klammern sich an Theorien, die von motivierten, selbständigen und disziplinierten Schülern ausgehen.» Schülern, die selbst in Sek-A-Klassen zu einer raren Spezies ge­hörten.
Walter Bircher kann die Vorwürfe, dass an der PH weltfremde Theorien verbreitet würden, nicht nachvollziehen. «Viele Studenten bewerten die theoretischen Konzepte in der Ausbildung positiv», sagt er. Dass die PH ­einem idealisierten, weltfremden Schülerbild nachhängt, wie von Amstutz suggeriert, bestreitet er: «Wir gehen von der Annahme aus, dass im Grunde alle Schüler neugierig sind und etwas lernen wollen. Das ist doch nicht idealistisch.»
Sicher ist: Was die Didaktiker der PH an Konzepten entwickeln, kommt bei der Basis nicht immer gut an – und das hängt auch damit zusammen, dass die Fähigkeiten der Schüler unterschiedlich eingeschätzt werden. 2008 lancierte die PH, die sich als internationales Sprachkompetenz­zentrum etablieren wollte, mit grossem Tamtam eigene Englischlehrmittel, «Voices», «First Choice» und «Explorers». Die Fachwelt war über die «ultramodernen Lehrmittel» (Tages-Anzeiger) begeistert und überschüttete sie mit Preisen, denn sie entsprachen ganz dem Zeitgeist: Statt Grammatik zu büffeln, sollten die Schüler die Sprache «erleben» und «erforschen».
Im Alltag erlebte das zehn Millionen Franken teure Wunderwerk ein Fiasko. Die Lehrerschaft weigerte sich, damit zu arbeiten, weil es die Schüler überfordere. Der Bildungsrat strich die Bücher auf Druck von unten von der Liste der ­obligatorischen Lehrmittel. Hanspeter Amstutz schüttelt über die Geschichte den Kopf: «Man hat die Gestaltung Didaktikern überlassen und Ratschläge von uns Praktikern ignoriert.»
Unter «konservativen» Lehrern wie Am­stutz gilt die PH als Hort von Bildungsreformern, welche die Welt mit neuen Unterrichtsmodellen beglücken wollen, deren Nutzen fragwürdig ist. Tatsächlich dürfen Lehrer, die auf «individualisierten» oder «integrativen» Unterricht setzen, auf Applaus hoffen. Wer das nicht tut, gilt als rückständig. So liegt der Weltwoche der Evaluationsbericht einer Schule vor, die wegen mangelnden Engagements für «individualisierte» Lernformen kritisiert wurde. Die Sekundarschule Uetikon dagegen, die mit «selbstgesteuertem» Unterricht experimentiert, wurde 2009 von der PH mit einem Preis ausgezeichnet, obwohl das System viele Schüler überforderte und einen Aufstand in der ­Elternschaft provozierte.
Dabei kommen inzwischen selbst PH-Untersuchungen zum Schluss, dass neue Unterrichtsformen nicht nur das Gelbe vom Ei sind. Die Autorinnen einer Studie über die integrative Schulung von verhaltensauffälligen und behinderten Kindern stellten nach einer Auswertung von Interviews mit Lehrern und Heilpädagogen etwas betreten fest, dass das Modell mehr «Grenzen» als positive Seiten ­habe. Ganz anders als in der Literatur dargestellt. «An der PHZH», so schreiben sie, «wird unserer Meinung nach ebenfalls ein relativ einseitiges Bild über die schulische Integration vermittelt, welche in ein sehr positives Licht gerückt wird.»
Für die Forschung gab die PH Zürich 2011 10,5 Millionen Franken aus, bei einem Gesamtbudget von 99 Millionen. Geld, das angeblich gut investiert ist. «Wir betreiben Forschung, die Fragen der Basis aufnimmt und Antworten an die Basis zurückgibt», sagt Rektor Bircher. Dieses Prinzip ist jedoch nicht immer leicht zu erkennen, etwa im Fall des laufenden Projekts «Rumba», das den «Umgang mit Anforderungen und Ressourcen von Lehrpersonen in der Bewältigung der Berufsanforderungen und ihr Zusammenwirken mit wahrgenommener Schulqualität» untersucht. Was für einen Nutzen die Basis aus der Arbeit der Gruppe Bisug ziehen soll – sie ist «spezialisiert auf Analysen von Bildungsverläufen und Sozialisationsprozessen in formalen und non-formalen Bildungsräumen mit Blick auf deren Strukturierung durch soziale Ungleichheiten» –, ist ebenfalls schleierhaft. Vielmehr zeugt das intellektuelle Imponiergehabe dieser Grüppchen, die sich im Internet ihrer «internationalen Vernetzung» rühmen, vom Drang nach wissenschaftlicher Selbstverwirklichung. Was hat das mit dem Grundauftrag der PH zu tun?
Für Hanspeter Amstutz ist klar: Die PH brauchen wieder mehr Erdung, der akademische Apparat muss zurückgestutzt und «mit der Praxis verzahnt» werden. Der Kinder- und Jugendpsychologe Allan Guggenbühl, der mit dem System der Lehrerbildung vertraut ist, wünscht sich allgemein, dass in der Ausbildung eine neue «Bescheidenheit» einkehrt. «Grosse Institutionen laufen immer Gefahr, ihre Kernaufgabe aus den Augen zu verlieren. Es ist so, als würden sich die SBB in einem philosophischen Diskurs darüber ergehen, was Verkehr bedeutet. Dabei geht es doch vor allem darum, dass die Züge funktionieren und pünktlich fahren.»
Quelle: Weltwoche 2.13 von Lucien Scherrer

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