12. November 2011

Die Volksschule bleibt eine Baustelle

Die Zürcher Schulreformen sind umgesetzt. Sie müssen aber gelebt werden.
Das Banner mit dem aufgestickten Kampfruf «Volksbildung ist Volksbefreiung» hängt wohl noch heute im 1832 eröffneten, inzwischen zur Kantonsschule mutierten Seminar Küsnacht. Mit der liberalen Parole reklamierte eine selbstbewusst gewordene bürgerliche Öffentlichkeit für sich und ihren Nachwuchs das Rüstzeug, das eine sich rasant wandelnde Gesellschaft erforderte: eine Bildung, die - frei von religiöser und politischer Bevormundung - auf das Leben als Bürger und Citoyen vorbereitet. Die Zeiten haben sich geändert, geblieben ist der Anspruch der Volksschule, eine für die Reproduktion einer demokratischen, wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaft zentrale Agentur zu sein. Dieser Anspruch wird im Grundsatz zwar nach wie vor kaum bestritten. In der Praxis neigt die Volksschule aber nicht dazu, auf neue gesellschaftliche Anforderungen rasch zu reagieren und so ihre Stellung stets zu festigen. So haben die massive Zuwanderung bildungsferner Gruppen, die gestiegene Bedeutung höherer Bildung, die Ansprüche der Wirtschaft, die bunte Vielfalt der Familienmodelle und vieles mehr in den 1990er Jahren zu einem gewaltigen Reformdruck geführt. Das Aufwachen erfolgte spätestens mit den ersten Pisa-Vergleichen zu Beginn des neuen Jahrtausends.
Der Kanton Zürich reagierte auf den Druck mit einem neuen Volksschulgesetz, das im Juni 2005 vom Volk mit einer 70-Prozent-Mehrheit angenommen wurde. Neben der längst fälligen Aufnahme der Kindergärten in die obligatorische Volksschule setzte es auf die Stichworte Schulleitungen, Integration, Betreuung und Partizipation. Nun sind die Klassen- und Elternräte installiert, die integrative Förderung ist mit Ächzen eingeführt, Blockzeiten und Tagesstrukturen sind umgesetzt und Schulen zu geleiteten und auf gemeinsame pädagogische Ziele ausgerichteten Betrieben umgestaltet. Dass die Bildungsdirektion den Abschluss der zeitlich nach Plan, inhaltlich mit etwelchen Turbulenzen verbundenen Umsetzung am Donnerstagabend mit Vertretern der Schulen gefeiert hat, ist legitim. Es ist offensichtlich gelungen, die Lehrerschaft für ein Selbstverständnis zu gewinnen, das auf die Kooperation in Schulteams baut und die Notwendigkeit verteilter Rollen, namentlich der Führungsrolle der Schulleiter, akzeptiert.
Ob dem Feiern darf aber nicht vergessen werden, dass die Volksschule eine Baustelle bleibt. Reformbedarf herrscht auch jenseits der Buchstaben des Gesetzes. Ewig wartet man etwa auf die Neuformulierung des Berufsauftrags der Lehrkräfte oder auf Lehrmittel, die integrativem Unterricht angemessen sind. Wenn sich durch den Kraftakt der letzten 6 Jahre das Bewusstsein breitgemacht hat, dass Anpassungsprozesse zu den Daueraufgaben der Schule gehören, die nicht aufgeschoben werden dürfen, sind die Voraussetzungen gut, dass die Reformen künftig auch gelebt werden.
Das vom früheren Bildungsdirektor und «Turbo-Reformer» Ernst Buschor beschworene Haus des Lernens ist nicht mehr als stolzer Gründerjahr-Bau auf der Hangkante hoch über dem Zürichsee denkbar. Es muss als flexibler, auf Kommunikation und individuelle Lernmöglichkeiten angelegter Zweckbau mit weit offenen Türen für den Dialog mit Eltern, Lehrbetrieben und lokaler Öffentlichkeit gedacht werden. Die Lautstärke der durch diese Tür angemeldeten Ansprüche wird zunehmen. Darauf zu antworten, ist primär Aufgabe der Schulleitungen. Ihre Fähigkeit, fruchtbare Unterrichtsbedingungen in der Schule zu schaffen und gleichzeitig nach aussen Vertrauen zu wecken, ist ein Schlüssel für den Erfolg der Volksschule. Sie dürfen unbequem sein, um nicht als Erfüllungsgehilfen von Behörden und Bildungsverwaltung zu gelten. Sie müssen in einer Zeit, in der Bildung den beruflichen und gesellschaftlichen Erfolg prädestiniert, die Grenzen der Schule und ihrer Möglichkeiten, Einzelansprüche zu befriedigen, aufzeigen können. Und sie sollen stur sein in der Verteidigung der für echte Bildung notwendigen Freiräume. Das sind Aufgaben für die Besten im Land, schon heute. Gelingt es ihnen nicht, darin zu bestehen, nimmt der Ruf der Schule schnell Schaden. Denen, die es können, laut die gebührende Hochachtung zu zollen, ist ein Bekenntnis zur Volksschule.
Von Walter Bernet, NZZ, 12.11

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