28. Oktober 2011

Mehr Augenmass für Schwächere in der Berufsbildung


Jeder Mensch hat Talent

Der Schweiz mangelt es an Fachkräften. Ohne Pflegepersonal, Ingenieure und sogar Lehrer aus dem Ausland käme der in den letzten Jahren schnurrende Motor der Wirtschaft ins Stottern. Es gibt zwei Möglichkeiten, den Mangel zu bekämpfen: Man kann noch mehr qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland holen, und man kann das eigene Potenzial besser nutzen. Um diesen zweiten Weg zu gehen, müsse man «integrieren, integrieren und nochmals integrieren», hat die Direktorin des Bundesamts für Berufsbildung und Technologie, Ursula Renold, am Mittwochabend in Zürich gefordert.
Menschliche Grosszügigkeit

Sie meinte damit primär die Heranführung schwächerer Jugendlicher an das immer anspruchsvoller werdende Berufsleben, aber auch die Nachqualifikation von Erwachsenen ohne Berufsausbildung. Mindestens 95 Prozent aller jungen Erwachsenen, so das erklärte Ziel, sollten einen Berufs- oder Mittelschulabschluss erreichen. Damit wären sie erfahrungsgemäss recht gut vor Arbeitslosigkeit geschützt.
Renold trat zusammen mit dem Zürcher Regierungsrat und früheren Präsidenten des KV Schweiz Mario Fehr, mit dem Buchautor und Gründer der Stiftung Märtplatz Jürg Jegge und mit dem Economiesuisse-Chefökonomen Rudolf Minsch an einer Forumsveranstaltung des Vereins Impulsis auf. Impulsis arbeitet selber mit Jugendlichen auf dem Weg ins Berufsleben und bietet eine breite Palette an Programmen und Schulungsmöglichkeiten an.
«Berufsbildung um jeden Preis?», lautete das Thema. Die Fragestellung erwies sich als knifflig: Braucht es mehr Geld, mehr Begleitung, mehr Vorbereitung, um die 16 Prozent der oft unmotivierten jungen Erwachsen ins Berufsleben zu führen, die keinen Schul- oder Berufsbildungsabschluss haben? Mario Fehrs Plädoyer galt der integrierenden Wirkung des Sports. Am Beispiel eines Mirko, der im Fussballverein als Teamplayer und zuverlässiger Trainerassistent bei den F-Junioren besser als in der Schule zeigen kann, was in ihm steckt, verwies Fehr auf die Bedeutung ausserschulischer Beziehungen - auch zu möglichen Lehrmeistern. Gerade für Mädchen mit Migrationshintergrund könnten Kontakte über Sport- und andere Anlässe zur Emanzipation von den Rollenbildern ihrer Milieus beitragen. Im kantonalen Sportfonds habe es Mittel für entsprechende Projekte, warb er.
Jegge forderte nicht unbedingt mehr Geld, sondern mehr menschliche Grosszügigkeit im Umgang mit schwächeren jungen Erwachsenen. Jeder Mensch habe sein eigenes Tempo. Wichtig wäre es laut Jegge, das - an sich gute - Berufsbildungsgesetz konsequent umzusetzen. Gerade bei Angeboten wie den zweijährigen Attestlehren stünden viele Berufsverbände auf der Bremse. Einen Mangel des Gesetzes ortete Jegge bei den Angeboten unterhalb der Schwelle der Attestlehre. Seitentüren und Umwege in eine berufliche Ausbildung dürften nicht verschlossen werden.
Exzellenz statt Durchschnitt

Minsch setzte der Forderung nach einer höheren Maturitätsquote jene der Wirtschaft nach mehr Qualität gegenüber. Es gebe keinen Königsweg zum beruflichen Erfolg, aber man müsse auf jeden Fall Exzellenz anstreben, auch in den Schulen. In den Kernkompetenzen Erstsprache und Mathematik vermittle diese ungenügende Kompetenzen. Vielen Schulabgängern fehle die Selbstdisziplin. Einen Trumpf des schweizerischen Bildungssystems sieht auch Minsch in der grossen Durchlässigkeit.

Von Walter Bernet, NZZ, 28.10.

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