29. Juni 2011

Interpellation zur Sprachenpolitik im Thurgau

Gestern berichtete ich von einem parlamentarischen Vorstoss zur Sprachenpolitik im Thurgau. Hier nun dessen exakter Wortlaut: 

Hannes Bär                                    Josef Brägger         
SP / Gewerkschaften                     Grüne Partei
8586 Riedt bei Erlen                      8580 Amriswil

Interpellation „Gesamtsprachenkonzept für den Thurgau“

Das Sprachenkonzept wurde im August 2003 publiziert. Am 21. Mai 2006 lehnte das Stimmvolk die Initiative „Nur eine Fremdsprache“ ab. Im Sommer 2009 wurde der Englischunterricht in allen 3. Klassen eingeführt. Zu Beginn des neuen Schuljahres 2011/12 werden neu alle 5. Klässlerinnen und 5. Klässler zusätzlich eine 2. Fremdsprache lernen.

Der Regierungsrat wird ersucht, die folgenden Fragen zu beantworten:

1.    Welches sind die Erfahrungen der letzten 2 Jahre mit dem Frühenglischen
- bei den Lehrpersonen?
- bei den Eltern?
- bei den Kindern?

2.    Wie bewähren sich die eingesetzten Lehrmittel?

3.    Wie wird garantiert, dass die Empfehlungen des Sprachkonzeptes aus dem Jahre 2003 betreffend Kindern mit Risikopotenzial in den Deutsch- und Fremdsprachunterricht einfliessen (Punkt 5.3. „Kinder mit Risikopotenzial“)?

4.    Wie wird garantiert, dass die Lehrpersonen die erweiterten Anforderungen gemäss Sprachkonzept (Punkt 13.6. „Anforderungen an Lehrpersonen“) erfüllen?

5.    Wie wird garantiert, dass auch schwächere Lernende bis zum Ende der obligatorischen Schulpflicht motiviert Fremdsprachen lernen bzw. welche Alternativen (z.B. zusätzlicher Deutschunterricht) werden bei Bedarf geprüft?

6.    Ist der Regierungsrat bereit, das Sprachenkonzept aus dem Jahre 2003 so zu überarbeiten, dass der systematische Sprachenerwerb in Deutsch und den beiden Fremdsprachen von der 3. Klasse bis zum Ende der Sekundarstufe II (inkl. Berufsschulen) garantiert wird bzw. auf Schwierigkeiten im Spracherwerb reagiert werden kann?

Begründung

Der Fremdsprachenunterricht in der Primarstufe zeichnet sich durch eine hohe Professionalität der Lehrpersonen aus. Es wurde viel Geld in die dafür nötige Ausbildung gesteckt; der Einsatz und das Engagement der Lehrpersonen sind sehr hoch. In Praxisgruppen tauschen sie die Erfahrungen aus und optimieren ihren Unterricht. Ausserdem bilden sich die Fremdsprachenlehrpersonen kontinuierlich weiter.

Problematisch sind jedoch in vielen Schulen die Klassen- bzw. Gruppengrössen sowie die extreme Heterogenität. Lehrpersonen müssen mit Kindern arbeiten, welche die unterschiedlichsten Voraussetzungen mitbringen (Englisch als Drittsprache, fehlende oder mangelhafte Deutschkenntnisse usw.). Die geforderte Binnendifferenzierung ist aus verschiedenen Gründen häufig kaum möglich. Damit sind Über- oder Unterforderung von Schülerinnen und Schülern programmiert.

Bei vielen Eltern macht sich Verunsicherung breit: die Schriftlichkeit erhält einen höheren Stellenwert, Hausaufgaben werden häufiger, regelmässige Lernkontrollen mit Noten wirken belastend. Während Eltern aus dem Mittelstand den zusätzlichen Aufwand bzw. die nötige Unterstützung garantieren können, sind viele Eltern mit unterdurchschnittlichem Bildungsstand überfordert. Die Schere zwischen den Kindern öffnet sich noch früher.

Es zeichnet sich ab, dass je länger desto mehr Kinder im Fremdsprachenunterricht überfordert sind und „abschalten“. Die Lehrpersonen haben es zunehmend mit „Sprachverweigern“ zu tun bzw. teilweise schon in der 4. Klasse so genannte Lernzielbefreiungen anordnen lassen. Die Weiterarbeit mit diesen Kindern stellt die Sekundarstufe I vor immer grössere Probleme.

Viele Schulabgängerinnen und -abgänger benötigen in der Berufsschule keine Fremdsprache mehr. Die Frage stellt sich also, ob sich bei diesen Jugendlichen der enorme Aufwand zum Sprachenerwerb gelohnt hat. Falls sie weiterhin Englisch oder Französisch als Freifach belegen möchten, müssen sie auf den Abend bzw. auf Randstunden ausweichen.

Dem Regierungsrat wird im Voraus für die Beantwortung der Fragen gedankt.

Riedt / Amriswil, 15. Juni 2011


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