Es sind befremdliche Szenen, die sich in der
Mehrzweckhalle im thurgauischen Uttwil abspielen: Ein gutes Dutzend Schulkinder
steht in Militäruniformen mit hölzernen Gewehren im Anschlag auf der Bühne und
spielt Krieg. Im Hintergrund hört man das Rattern von Maschinengewehren.
Umrahmt wird die morbide Szenerie von türkischen Flaggen und dem Konterfei von
Staatsgründer Atatürk.
Die Mär vom *Erdogan-Kriegsspiel", Basler Zeitung, 8.5. von Serkan Abrecht
«Erdogan
lässt Schweizer Schüler Krieg spielen», titelte derSonntagsblick am Wochenende.
Dem Journalisten wurde ein kurzes Video der Kriegsspiele vom 25. März
zugespielt. Die Aufführung sollte an die siegreiche Gallipoli-Schlacht von 1916
erinnern. Die Osmanen besiegten damals in den Dardanellen die Engländer,
Australier und Neuseeländer. Das Theaterstück wurde vom Elternbeirat der türkischen
Schule St. Gallen organisiert, und geprobt wurde die Aufführung im Rahmen des
türkischen Unterrichts für «Heimatliche Sprache und Kultur» (HSK) – unterstützt
durch die Regierung in Ankara. Für das HSK-Angebot arbeiten die Kantone deshalb
mit der türkischen Botschaft zusammen. Das ist für den Journalisten des
Boulevardblatts Grund genug, um den türkischen Premier Recep Tayyip Erdogan und
die Regierungspartei AKP für das Spiel im Thurgau verantwortlich zu machen.
Unschuldige
Reizfigur
Offenbar
hat sich der Sonntagsblick jedoch
nicht über die Hintergründe dieses makaberen Schulschauspiels schlau gemacht.
Für den Journalisten schien von vornherein klar: türkischer Nationalismus
gleich Erdogan. Der Sonntagsblick schreibt
weiter: «Nationalistische Gedenkfeiern rund um die Gallipoli-Schlacht haben in
der Türkei seit Jahren Tradition. Erdogan nutzt die Erinnerung an das Ereignis,
um seine Grossmachtsfantasien zu befeuern.» Das ist falsch. Der türkische
Präsident, der sein Land Schritt für Schritt in eine islamische Autokratie
verwandelt, ist für Schweizer Journalisten zu Recht zur Reizfigur geworden.
Doch dürfen ihm nicht alle – für uns unverständliche – türkisch-kulturellen
Eigenarten in die Schuhe geschoben werden. Gedenkfeiern – besonders jene zur
Gallipoli-Schlacht – haben seit Jahrzehnten, lange vor Erdogans Geburt,
Tradition. Ebenso, dass türkische Kinder diese nachspielen.
Schon
mein Vater (Jahrgang 1948) musste im Primarschulalter als osmanischer Soldat
verkleidet den Krieg gegen das Commonwealth aufführen. Die Diaspora-Türken
führen diese Tradition seit Generationen im Ausland weiter. Die Schlacht in den
Dardanellen, eine der blutigsten des Ersten Weltkriegs, ist Teil der
Erinnerungskultur und einer der Grundpfeiler des türkischen Nationalismus.
Das
Osmanische Reich, kurz vor dem definitiven Zerfall, hat es vor 102 Jahren
geschafft, den Einfall Grossbritanniens in sein Land zu verhindern. Angeführt
wurden die Truppen von Mustafa Kemal Atatürk (Vater der Türken), dem späteren
Gründer der türkischen Republik. Für die Türken gehört diese Schlacht deshalb
zum nationalen Selbstverständnis. Ebenso wie für die Australier und die
Neuseeländer: Der Krieg mit der Türkei gilt dort als nationales Volkstrauma, da
die englische Krone Hunderttausende junge Australier und Neuseeländer fernab
ihrer Heimat in einen Krieg gegen ein Volk entsandte, gegen das das Gros der
Bevölkerung keine Feindschaft hegte. Deshalb ist der Anzac Day (Akronym für
Australian and New Zealand Army Corps) dort der höchste nationale Feiertag. Für
viele Australier gilt die Niederlage als Geburt ihrer Nation – so auch für
viele Türken.
Ein Stück
Erinnerungskultur
Die
Schlacht symbolisiert den Widerstand, den die damaligen Türken um Atatürk der
Entente entgegenbrachten, die die Türkei auf einen Bruchteil des heutigen
Landes reduzieren wollte. Weil es sich bei der Türkei um einen Vielvölkerstaat
handelte, dessen Stämme es zu vereinen galt, mystifizierte und glorifizierte
Atatürk verschiedene historische Ereignisse zu Feiertagen des türkischen
Nationalismus – so auch den Sieg über die Griechen im Befreiungskrieg (Schlacht
von Dumlupinar) oder den Tag der nationalen Souveränität. Die Türkei definiert
sich stark durch solche Schlachten und die Abschaffung des Sultanats. Dies ist
eine Erinnerungskultur, die hauptsächlich von Atatürks
sozialdemokratisch-republikanischer Partei CHP bewirtschaftet wurde. Die AKP
hingegen behandelt diesen Gedenktag eher stiefmütterlich und gewichtet die
islamischen Feiertage umso stärker – ganz im Sinne von Erdogans Islamisierung
der säkularen Türkei.
Ähnliche
Veranstaltungen wie in Uttwil werden von Diaspora-Türken seit Jahrzehnten auf
der ganzen Welt organisiert. Das ist weder neu, noch hat dies, wie es der Sonntagsblick behauptet,
irgendetwas mit «der langen Hand des türkischen Staats» zu tun.
Auch
ich halte es für unsinnig, kleine Kinder mit Spielzeugwaffen aufmarschieren zu
lassen, um Krieg zu spielen – für die Türken ist dies jedoch normal. Und dass
diese Veranstaltung im Rahmen des türkischen Unterrichts für «Heimatliche
Sprache und Kultur» geschah, ist ebenfalls kein Skandal: Solche martialischen
Darbietungen sind nun mal tatsächlich Teil der türkischen Kultur.
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