4. Mai 2017

Abfuhr für Bündner Regierung

Die umstrittene Volksinitiative “Nur eine Fremdsprache in der Primarschule“ war im November 2013 bei der Standeskanzlei des Kantons Graubünden in Form einer allgemeinen Anregung eingereicht worden; sie muss also – wenn ihr das Stimmvolk dereinst den Segen erteilen sollte – vom Regierungsrat und vom Grossen Rat im Detail ausgearbeitet und in ein Gesetz gepackt werden. Die Fremdspracheninitiative, wie sie auch genannt wird, will eine Abänderung des Volksschulgesetzes und verlangt, dass in der Primarschule nur noch eine Fremdsprache obligatorisch ist, je nach Sprachregion Deutsch oder Englisch. Die Primarschüler im deutschsprachigen Gebiet hätten demnach als Fremdsprache Englisch und die Schüler im rätoromanischen im italienischen Teil des Kantons müssten Deutsch lernen.
Bundesrichter erteilen Bündner Regierung eine Abfuhr, Südostschweiz, 4.5.


Verwaltungsgericht geschützt
Bereits im Grossen Rat war umstritten, ob die Initiative gültig ist oder nicht. Im April 2015 beschloss der Grosse Rat mit 82 zu 34 Stimmen, die Fremdspracheninitiative für ungültig zu erklären. Ein Rechtsgutachten von Professor Ehrenzeller war zuvor zum Ergebnis gelangt, dass die Fremdspracheninitiative unter anderem gegen das Diskriminierungsverbot verstösst. Vor etwas mehr als einem Jahr hiess das Bündner Verwaltungsgericht eine dagegen erhobene Beschwerde gut, erklärte die Initiative für gültig und wies die Angelegenheit zur weiteren Behandlung an den Grossen Rat zurück. Gestern musste sich das Bundesgericht mit dem Streit befassen, nachdem insgesamt 18 Privatpersonen gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts in Lausanne Beschwerde erhoben hatten. Mit knappen drei zu zwei Stimmen wies das Bundesgericht die Beschwerde ab. Damit ist die Gültigkeit der Fremdspracheninitiative besiegelt und das Bündner Stimmvolk kann darüber abstimmen, ob künftig an der Primarschule nur noch eine Fremdsprache vermittelt werden muss.

Berufliche und wirtschaftliche Nachteile
Die Richter in Lausanne hatten insbesondere zu prüfen, ob die Initiative gegen übergeordnetes Recht verstösst. Im Vordergrund stand dabei die Frage, ob die Spracheninitiative die Schüler im rätoromanischen und im italienischen Sprachgebiet diskriminiert, weil sie in der Primarschule Deutsch lernen müssen, während die deutschsprachigen Schüler bereits in Englisch unterrichtet werden. Zwei Richter sahen darin eine Diskriminierung, weil die deutsche Sprache weltweit massiv weniger verbreitet ist als die englische Sprache. Die italienisch- und rätoromanisch-sprachigen Schüler seien deshalb insbesondere im beruflichen und wirtschaftlichen, aber auch im touristischen Bereich benachteiligt, wenn sie erst in der Oberstufe Englisch lernen könnten.

Kein offensichtlicher Widerspruch
Die Mehrheit der Richter sah das nicht so eng. Ihrer Auffassung nach hätte die Fremdspracheninitiative nur dann für ungültig erklärt werden dürfen, wenn ein offensichtlicher Widerspruch zum übergeordneten Recht bestehen würde. Bei Fragen bildungspolitischer Art könnten mit guten Gründen verschiedene Standpunkte vertreten werden, meinte ein Richter. Um diskriminierend zu sein, müsste der Widerspruch zur Bundesverfassung oder zur kantonalen Verfassung geradezu ins Auge springen. Im Kanton Graubünden eine absolute Gleichbehandlung aller Schüler zu erlangen, ist angesichts der verschiedenen Sprachen ein Ding der Unmöglichkeit. Dem Kanton ist deshalb ein grosser Ermessenspielraum in diesen Fragen zuzubilligen.

Freiwillig zweite Fremdsprache
Der Vorwurf der Beschwerdeführer, die Initiative stehe quer in der Landschaft und führe zu einer Entharmonisierung mit den andern Kantonen, liess die Mehrheit der Richter nicht gelten, zumal der Kanton Graubünden dem Harmos-Abkommen, welches für die Primarschule zwei Fremdsprachen vorsieht, nicht beigetreten ist. Im Übrigen wies ein Richter darauf hin, dass es die Initiative nicht verbietet, auf freiwilliger Basis auf Primarschulstufe eine zweite Fremdsprache anzubieten. Zudem schliesst die Initiative auch nicht aus, dass bei entsprechender Umsetzung eine gleichwertige Sprachausbildung aller Schüler am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit besteht. Das Gericht geht davon aus, dass eine zweite Fremdsprache auf der Oberstufe relativ effizient erlernt werden kann.

Diskussion dürfte weiter gehen
Mit der Gültigerklärung der Initiative steht nun fest, dass das Bündner Stimmvolk über die Spracheninitiative abstimmen kann. Ein Ja würde aber nicht heissen, dass die einzelnen Fremdsprachen postwendend eingeführt würden. Zuerst müsste die Regierung ein entsprechendes Gesetz erarbeiten, welches später vom Grossen Rat zu beraten ist. Nach der Verabschiedung des Gesetzes könnte mit einem Referendum eine weitere Abstimmung erzwungen werden. Und auf juristische Ebene könnte das Gesetz bzw. heikle Bestimmungen des Gesetzes im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle erneut dem Bundesgericht unterbreitet werden. Und last but not least: Würde ein Schüler dereinst in einem speziell gelagerten Einzelfall durch das „Fremdsprachengesetz“ in seinen verfassungsmässigen Rechten verletzt, könnte das Bundesgericht ebenfalls eingreifen.
Urteil 1C_267/2016 vom 3. Mai


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