«Die Kinder
werden heute zu kleinen Egoisten erzogen.» Dieses Fazit zieht die Freiburger
Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm. In ihrer neusten Publikation mit dem
Titel «Ich will – und zwar jetzt!» zeigt sie auf, weshalb sich Kinder in
Gruppen schlecht einordnen, kaum warten oder verlieren können. Und was die
Folgen dieser mangelnden Frustrationstoleranz sind.
"Das machst du unglaublich toll, mein Goldschatz", Bild: Getty Images
Zu viel Lob schadet dem Kind, NZZaS, 18.12. von René Donzé
|
Zwar
gibt es keine statistisch erhärteten Zahlen, die belegen, dass Kinder heute
egoistischer geworden sind als früher. Doch in Kindergärten wird die Zunahme
oft bestätigt. Dort zeigen 20 bis 40 Prozent der Kinder
Verhaltensauffälligkeiten oder Störungen. «Die Ursache liegt meist in einer zu
behütenden Erziehung», sagt Stamm. Eine Einschätzung, die der Präsident der
Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie, Philipp Ramming, teilt (siehe
Interview).
Der
Marshmallow-Test
Nadine
Hoch, Geschäftsleiterin des Verbandes Kinderbetreuung Schweiz, spricht von
Prinzen und Prinzessinnen, die in einer Kindertagesstätte erst einmal lernen
müssten, sich in Gruppen einzufügen. Entsprechend wichtig seien qualitativ gut
geführte Betreuungseinrichtungen, die diese Defizite auffangen könnten.
Dass
eine hohe Frustrationstoleranz den Kindern fürs Leben etwas bringt, zeigte
bereits ein inzwischen zum Youtube-Hit avancierter Test von 1968 aus den USA:
Kleine Kinder wurden allein vor ein Marshmallow gesetzt. Sie mussten warten, bis
die Betreuungsperson wieder auftauchte. Schafften sie das, ohne die Süssigkeit
zu essen, erhielten sie zur Belohnung eine zweite. Wie eine Nachuntersuchung 13
Jahre später ergab, waren jene, die warten konnten, später erfolgreicher in der
Ausbildung.
In
ihrer Untersuchung ist Stamm nun auf ähnliche Ergebnisse bei Schweizer Kindern
gekommen. Sie hat Zahlen ihrer Längsschnittstudie zu Frühlesern und
Frührechnern unter diesem Aspekt neu ausgewertet und festgestellt: «Kinder, die
in der Schule zur Leistungsspitze gehören, weisen eine überdurchschnittliche
Frustrationstoleranz auf.» Bei den Kindern mit den besten schulischen
Leistungen lag der Anteil der frusttoleranten Kinder bei 54 bis 61 Prozent, bei
den weniger guten Schülern machten sie nur 20 bis 33 Prozent aus.
Auch
in der Lehre haben jene mehr Erfolg, die Frustrationen gut aushalten. Das ergab
Stamms Analyse einer Längsschnittstudie zur Berufsbildung: Am Ende der
Ausbildungszeit waren nicht unbedingt jene am besten, die eine besonders hohe
Intelligenz aufwiesen und zu Beginn die besten Resultate erzielten. «Für den
Erfolg in der Lehre ausschlaggebend sind vielmehr Persönlichkeitsmerkmale wie
Frustrationstoleranz sowie Arbeitsmotivation, Stressresistenz und
Beharrlichkeit», sagt Stamm.
Die
Beobachtung teilt Jürg Zellweger, Bildungsexperte beim Schweizerischen
Arbeitgeberverband: «Der Umgang mit Misserfolgen muss gelernt sein. Man muss
damit konstruktiv umgehen können und nicht gleich den Bettel hinwerfen.» Darauf
werde in der Berufsbildung heute viel Wert gelegt. Etwa indem man über
Stresssituationen rede, die im Lehrbetrieb vorkommen.
Von
Freunden lernen
Angesetzt
werden müsse indes viel früher, sagt Stamm. Eltern sollten die Kinder nicht zu
sehr verwöhnen und nicht für jede Kleinigkeit loben: «Überdosierte Anerkennung
macht die Kinder schwach.» Mütter, die jeden Purzelbaum mit Superlativen
kommentierten, täten dem Sprössling keinen Gefallen. «Solche Kinder erhalten
das Gefühl, alles, was sie tun, sei eine Meisterleistung.» Wenn ihnen später
einmal etwas misslinge, kapitulierten sie.
Sehr
wichtig für eine gesunde kindliche Entwicklung seien zudem das freie Spiel
sowie Freundschaften mit Gleichaltrigen. So lernten sie, dass nicht immer alles
nach ihrem Kopf gehen könne. «Sie üben zu verhandeln, Kompromisse einzugehen
und auch einmal eine Niederlage zu akzeptieren», sagt Stamm.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen