4. Mai 2015

Winterhoff in Menziken

Mit seinem Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ sorgte Michael Winterhoff vor einigen Jahren für viel Aufsehen und löste eine Erziehungsdebatte aus. Der deutsche Kinder- und Jugendpsychiater stellt gravierende Mängel in der Entwicklung der Kinder fest und sieht die Gründe dafür vor allem im Verhalten der Erwachsenen. In Menziken sprach er darüber, was falsch läuft und was wir dagegen tun können.





"Heute weiss man nicht mehr, was normal ist". Bild: Georg Pesentheiner


Der Katastrophenalarm untergräbt die Institution, Aargauerzeitung, 4.5. von Evelyn Pesentheiner


Wer am Dienstagabend zu den „Menziker Begegnungen“ wollte, musste bereits weit vor dem Gemeindesaal draussen Schlange stehen. Gut besucht ist sie immer, die Veranstaltungsreihe, die die Menziker Schulleitung vor einigen Jahren ins Leben gerufen hat. Der Vortrag von Dr. Michael Winterhoff zu seinem neuesten Buch „SOS Kinderseele“ jedoch hat einen wahren Besucherstrom angelockt. Rund 350 Gästen – Lehrern, Eltern und weiteren Interessierten – zeigte der Arzt und Psychotherapeut auf, was die Kinderpsyche heute in Gefahr bringt und wie wir Gegensteuer geben können. Der Andrang beim anschliessenden Bücherverkauf wie auch der langanhaltende Schlussapplaus lassen vermuten, dass Michael Winterhoffs Thesen auf Zustimmung gestossen sind oder zumindest zum Nachdenken angeregt haben.
Was ist normal?
Kinder haben sich seit Mitte der 90er-Jahre stark verändert. „Jugendliche sind respektlos, weil sie uns nicht als Gegenüber erkennen.“ Die Ursache dafür sieht Michael Winterhoff im Verhalten der Erwachsenen. Früher habe sich die emotionale und soziale Intelligenz wie von alleine gebildet, weil die meisten Erwachsenen intuitiv vieles richtig gemacht hätten. Ist Eltern und Lehrern die Intuition abhandengekommen? – Nein, sagt Winterhoff und spricht vom Katastrophenalarm. Viele Eltern, die zu ihm in die Praxis kommen, können nicht über ihre Intuition verfügen, weil ihnen die Ruhe und Gelassenheit fehlt. Ständige Erreichbarkeit, die ungenügende Trennung zwischen Arbeit und Freizeit sowie veränderte Wertvorstellungen verunsichern. Wir befinden uns permanent im Katastrophenmodus. „Heute weiss man nicht mehr, was normal ist. Ein Kind, das unauffällig ist, wird zum auffälligen Kind erklärt.“
Fehlende Entwicklung ist keine Krankheit
Gemäss Michael Winterhoff bleiben heute viele Kinder und Jugendliche in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung auf der Stufe eines Kleinkindes stehen. Wer nie gelernt hat, dass er auch mal warten muss und dass nicht alle seine Wünsche erfüllt werden, glaubt auch als 15-Jähriger noch, die Welt drehe sich immerzu und ausschliesslich um ihn und seine Bedürfnisse. Diese Kinder haben grosse Mühe, sich in Schule und Gesellschaft einzufügen. Die Kommunikation ist gestört, weil das eigene Weltbild nicht mit der Umwelt übereinstimmt. „Alle diese Kinder“, so betont  Winterhoff, „sind nicht krank, aber sie sind nicht entwickelt.“ Zuerst braucht es Entwicklung, erst dann kann Bildung stattfinden.
Zunächst innerlich auf vier zählen
Viele der heutigen Probleme in Erziehung und Bildung hält Michael Winterhoff für hausgemacht. Psychische Funktionen bilden sich nicht von alleine, sie müssen altersgerecht gefördert werden. Dafür unbedingt notwendige Konsequenz und Übung aber werden als Autorität und Drill verteufelt. Eltern wie Lehrer warnt er: „Wer partout geliebt werden will, kann den Kindern nichts mehr abverlangen.“ Sollen Kinder nicht zu lustorientierten Egoisten heranwachsen, müssen sie lernen, dass sie nicht jederzeit selbstbestimmt sind. Winterhoff plädiert für ein personenzentriertes Arbeiten, das es den Kindern erlaubt, sich am Verhalten der Erwachsenen zu orientieren. Frustrationstoleranz entwickelt sich, wenn Erwachsene ihre Reaktion verzögern. „Zählen Sie zunächst innerlich auf vier, bevor Sie reagieren.“ Dass die dazu notwendige Gelassenheit nur aufbringen kann, wer aus dem Katastrophenmodus herausgefunden hat, versteht sich von selbst. Der Psychotherapeut rät, die innere Ruhe auf Waldspaziergängen zu tanken – allein, ohne Handy und andere Ablenkungen. Schulleiter Bruno Schaller leitete aus diesem Tipp gute Zukunftsaussichten für Menziken ab. „Wir haben hier sehr viel Wald“, liess er den Referenten im Schlusswort augenzwinkernd wissen.

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