6. Oktober 2014

So lernen Kinder weder Französisch noch Englisch

Remo Largo meldet sich zu Wort und stellt fest, dass der Unterricht in der Primarschule nicht auf die Bedürfnisse der Kinder ausgelegt sei. "Da ein Wort, dort ein Reim, hier ein Lied auf Englisch oder Französisch: So lernt kein Kind eine Fremdsprache".




Lauter falsche Versprechen zum Fremdsprachenunterricht, Bild: iStock

So lernen Kinder weder Französisch noch Englisch, Tages Anzeiger, 6.10. von Remo Largo



Seit einigen Monaten erleben wir eine erbitterte Debatte über den Fremdsprachenunterricht in den Primarschulen. Der Zusammenhalt der Schweiz scheint auf dem Spiel zu stehen. Beim Frühfranzösisch hat die politische Auseinandersetzung zu einem regionalpolitischen Taktieren geführt. Beim Frühenglisch geht die Angst um, in einer globalisierten Wirtschaft nicht mehr mithalten zu können.
Es ist eine Auseinandersetzung unter Erwachsenen, Politikern, Lehrern, Eltern. Und die Erwachsenen tun so, als ob sie über die Kinder frei verfügen könnten und – vor allem – als ob die Kinder beliebig lern- und anpassungsfähig wären. Sind sie aber nicht. Die Sache ist komplizierter.
Eigentliche Lerngenies
Eine Familie zieht von Genf nach Zürich. Die 5-jährige Tochter tritt in den Kindergarten ein, und ein Jahr später spricht sie perfekt Schweizerdeutsch. Das Beispiel zeigt: Kleine Kinder sind eigentliche Lerngenies.
Sie erbringen in den ersten Lebensjahren eine Leistung, zu der kein Erwachsener fähig wäre. Sie können sich jede beliebige Sprache aneignen. Zwischen dem 2. und dem 5. Lebensjahr erwerben die Kinder jeden Tag mehrere neue Worte. Als 2-Jährige bilden sie Zweiwortsätze, mit 3 bis 4 Jahren Mehr-Wort-Sätze. Im Alter von 5 Jahren können sich die meisten Kinder in vollständigen Sätzen ausdrücken. Ihr Wortschatz umfasst dann etwa 4000 Wörter.
Diese enorme Leistung ist nur möglich, weil die Kinder mit einer Begabung zum Spracherwerb auf die Welt kommen. Sie sind fähig, unbewusst die Gesetzmässigkeiten einer Sprache, wie Satzstellung oder Grammatik zu erfassen. Der höchst anspruchsvolle Prozess des Sprach­erwerbs kann jedoch nur gelingen, wenn die Kinder ausgedehnte Erfahrungen in einem ständigen sprachlichen Austausch mit Eltern, mit anderen Bezugspersonen und vor allem mit Kindern machen können.
Sprache in den Alltag einbetten
Dabei genügt es nicht, Sprache nur zu hören. Die Kinder müssen Sprache konkret erleben. Nur wenn die Kinder das Gehörte mit Personen und Gegenständen, Handlungen und Situationen verbinden können, lernen sie, Sprache zu verstehen und zu sprechen. Die Sprache muss also in den Alltag der Kinder eingebettet sein. Im Gegensatz zu den Erwachsenen lernen die meisten Kinder – mit einer gewissen zeit­lichen Verzögerung – auch eine Zweit- oder Drittsprache. Diese Art, eine Sprache ganzheitlich zu erlernen, wird als synthetischer Spracherwerb bezeichnet. Sie ist in den ersten Lebens­jahren am stärksten und nimmt im Verlaufe der Schulzeit ab. Sie erschöpft sich im Pubertätsalter weitgehend.
Kinder wären also durchaus fähig, in der Schule eine Fremdsprache zu erlernen, jedoch nur unter entwicklungsgerechten Bedingungen. Das sogenannte Immersionslernen, wie es zum Beispiel in Australien, Kanada und Finnland angewandt wird, ist dem natürlichen Spracherwerb nach­empfunden. Es orientiert sich an folgenden Grundsätzen:
·         Die Fremdsprache kommt im ge­samten Alltag konsequent zum Einsatz.
·         Eine Person spricht lediglich eine Sprache.
·         Das Immersionslernen beginnt früh (möglichst mit 3 Jahren), ist von hoher Intensität (täglich über mehrere Stunden) und von langer Dauer (über die gesamte Kindertagesstätten- und Grundschulzeit).
Die Kinder machen vielfältige sprachliche Erfahrungen. Dazu gehört, dass alle Sinne angesprochen und emotionale Elemente mit einbezogen werden. In Südtirol werden die Kinder nach diesen Grundsätzen vom Kindergarten bis in die Oberstufe unterrichtet. Sie wachsen so perfekt zweisprachig auf. Neben Deutsch und Italienisch ­sprechen viele auch noch Ladinisch.
Lauter falsche Versprechen
Der Englisch- und der Französisch-light-Unterricht – beide wurden in der Schweiz in den Primarschulen eingeführt – konnten die Erwartungen, welche die Bildungspolitikergeweckt hatten, nie erfüllen. Berücksichtigt man die Kriterien für einen erfolgreichen Sprachunterricht, war ein Scheitern unvermeidlich. Da ein Wort, dort ein Reim, hier ein Lied auf Englisch oder Französisch mag für die Kinder unterhaltend und anregend sein, sprachkompetent werden sie dabei nicht. Dieser pädagogische Ansatz ist pseudosynthetisch – und falsch. Es sind im Unterricht zudem viel zu wenige Wochenstunden vorgesehen.
Nun gibt es eine weitere Art des Spracherwerbs, die analy­tische. Die meisten Jugendlichen und Erwachsenen können eine Sprache nur durch Auswendiglernen der Wörter und der formalen Elemente lernen. Die Sprachkompetenz ist begrenzt und charakteristisch mit einem Akzent behaftet. Diese Form von Unterricht ist uns aus der Oberstufe wohlvertraut. Bis zum Alter von 10 bis 12 Jahren sind Grammatik- und Syntaxregeln für Kinder – auch in der deutschen Sprache – ein Buch mit sieben Siegeln. Erst mit dem Auftreten des abstrakten Denkens nimmt das bewusste Verständnis für die Gesetzmässigkeiten der Sprache zu. Damit setzt die Fähigkeit zum analytischen Spracherwerb ein.
Kindern auf der Primarstufe eine Sprache analytisch beibringen zu wollen, ist ein pädago­gischer Sündenfall. Die Kinder, die an sich so sprachbegabt sind, werden durch die falsche Methodik überfordert und machen eine sehr negative Lernerfahrung. Es ist höchste Zeit für ein Eingeständnis: Wir haben in den letzten zehn Jahren einen kost­spieligen und nicht kindgerechten päda­gogischen Irrweg eingeschlagen.


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