Alexander Grob ist Professor für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Basel. Im Interviewspricht er darüber, was die Kinder in ihrer Entwicklung am stärksten beeinflusst.
"Ein Kind wird aggressiv, wenn man seine Wünsche missachtet", BZ Basel, 26.9. von Leif Simonsen
Herr Grob,
welchen Einfluss haben Eltern auf die Entwicklung des Kindes? Es gibt ja hier
völlig unterschiedliche Ansichten – Kognitionswissenschafter StevenPinker etwa
sagt, dass die Entwicklung genetisch vorbestimmt ist.
Alexander Grob:
Sie sprechen eine grosse Debatte in den Sozialwissenschaften und in der
Humanbiologie an. Es ist in der Tat viel vorgegeben, das Potenzial und die
biologischen Grundlagen eines Menschen. Aber, vergleichbar mit einem Fluss oder
einem Rinnsal, gibt es viele Schwellen, Schnellen und Engpässe, welche die
Laufrichtung beeinflussen können. Man unterscheidet zwischen dem als Grundlage
vorgegebenen Teil, der «Nature», und den sozialen und kulturellen Einflussgrössen,
der «Nurture». Zu Letzteren zählen Eltern und soziale Kontakte.
Wir haben es mit
einem verhaltensauffälligen Kind zu tun. Kann man beziffern, welchen Einfluss die
Gene haben und welchen das Umfeld?
Nicht in Zahlen. Aber anders als angenommen werden könnte, ist die «Nurture» in den jungen Jahren wichtiger, die «Nature» gewinnt mit zunehmendem Alter an Bedeutung. Kleine Kinder benötigen Fürsorge, Aufmerksamkeit und kontinuierliche soziale Unterstützung – von Eltern, nahen Bezugspersonen und später pädagogischen Fachpersonen. Mit zunehmendem Alter steuern sich die Kinder und Jugendlichen vermehrt selber; dabei wählen sie zu ihnen passende Entwicklungskontexte aus. Im Erwachsenenalter stabilisiert sich die Persönlichkeit. Grundlegende Veränderungen werden weniger wahrscheinlich.
Vermehrt haben es Lehrerinnen und Lehrer auch mit aggressiven Schülern zu tun. Wann werden Kinder gewaltbereit?
Ein Kind wird aggressiv, wenn man es stark bedrängt oder nicht auf seine Bedürfnisse eingeht. Wenn es realisiert, dass andere Kinder auch Bedürfnisse und Wünsche haben und dass diese Wünsche ebenso berechtigt sind wie die eigenen, packt es womöglich nicht gleich die Fäuste aus. Es braucht also Einfühlungsvermögen. Diese Fähigkeit wird erstmals in der Familie geübt und erlernt. Familien unterscheiden sich darin, wie stark sie bei unterschiedlichen Ansichten bereit sind, Lösungen auszuhandeln. Die gesellschaftliche Entwicklung trägt ihren Teil bei: Es wird in der individualisierten Gesellschaft angenommen, dass eigene Wünsche zentraler sind als jene von Mitmenschen.
Ein zunehmendes Problem stellt auch dar, dass gewisse Eltern depressiv sind. Was macht das mit einem Kind?
Wir
wissen, dass ungefähr ein Drittel der Kinder von Eltern, die unter Depressionen
und anderen schwerwiegenden psychischen Erkrankungen leiden, resilient sind,
also keine Symptome zeigen. Ungefähr ein Drittel zeigt vorübergehende
Verhaltensauffälligkeiten. Sie sind beispielsweise aggressiv oder stören das
soziale Miteinander stark. Und ein Drittel entwickelt selber anhaltende
psychische Beeinträchtigungen. Was den Ausschlag gibt, wissen wir nicht genau –
beziehungsweise ist es eine komplexe Kombination aus verschiedenen Risikofaktoren.
Und wenn man von Verhaltensauffälligkeiten spricht, muss man auch bedenken,
dass nicht alle Probleme gegen aussen getragen werden. Es gibt auch jene Verhaltensauffälligkeiten,
die von den Mitmenschen kaum bemerkt werden. Etwa, wenn Kinder in Angstzustände
gelangen und sich gar nicht mehr in die Schule getrauen.
Viele
Lehrerinnen und Lehrer nerven sich über die integrative Schule. Sie wünschen
sich die Kleinklassen zurück, wo die schwierigen Schüler bis zur Schulreform
separiert wurden. Würden Sie eine solche Rückkehr begrüssen?
Prinzipiell halte
ich die Separation nicht für eine gute Idee. Denn, was passiert, wenn man zehn
verhaltensauffällige Kinder in eine Klasse steckt? Dann ist der Fall klar. Eine
Separation führt bei den Betroffenen langfristig nicht zu einer Verbesserung
der sozialen Situation, weil sie keine guten Rollenmodelle in der Klasse
vorfinden. Klar ist aber, dass Integration nur bis zu einem gewissen
Schweregrad der Verhaltensauffälligkeit möglich ist. Wenn ein Kind, und da
kehre ich zu den Empathiefähigkeiten zurück, nicht fähig ist, zu verstehen, dass
andere Kinder andere Wünsche haben und beispielsweise lesen und schreiben
lernen wollen, und unentwegt stört, ist eine Integration nicht möglich.
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