27. September 2020

Integration hat ihre Grenzen

Alexander Grob ist Professor für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Basel. Im Interviewspricht er darüber, was die Kinder in ihrer Entwicklung am stärksten beeinflusst.

"Ein Kind wird aggressiv, wenn man seine Wünsche missachtet", BZ Basel, 26.9. von Leif Simonsen

Herr Grob, welchen Einfluss haben Eltern auf die Entwicklung des Kindes? Es gibt ja hier völlig unterschiedliche Ansichten – Kognitionswissenschafter StevenPinker etwa sagt, dass die Entwicklung genetisch vorbestimmt ist.

Alexander Grob: Sie sprechen eine grosse Debatte in den Sozialwissenschaften und in der Humanbiologie an. Es ist in der Tat viel vorgegeben, das Potenzial und die biologischen Grundlagen eines Menschen. Aber, vergleichbar mit einem Fluss oder einem Rinnsal, gibt es viele Schwellen, Schnellen und Engpässe, welche die Laufrichtung beeinflussen können. Man unterscheidet zwischen dem als Grundlage vorgegebenen Teil, der «Nature», und den sozialen und kulturellen Einflussgrössen, der «Nurture». Zu Letzteren zählen Eltern und soziale Kontakte.

Wir haben es mit einem verhaltensauffälligen Kind zu tun. Kann man beziffern, welchen Einfluss die Gene haben und welchen das Umfeld?

Nicht in Zahlen. Aber anders als angenommen werden könnte, ist die «Nurture» in den jungen Jahren wichtiger, die «Nature» gewinnt mit zunehmendem Alter an Bedeutung. Kleine Kinder benötigen Fürsorge, Aufmerksamkeit und kontinuierliche soziale Unterstützung – von Eltern, nahen Bezugspersonen und später pädagogischen Fachpersonen. Mit zunehmendem Alter steuern sich die Kinder und Jugendlichen vermehrt selber; dabei wählen sie zu ihnen passende Entwicklungskontexte aus. Im Erwachsenenalter stabilisiert sich die Persönlichkeit. Grundlegende Veränderungen werden weniger wahrscheinlich. 

Vermehrt haben es Lehrerinnen und Lehrer auch mit aggressiven Schülern zu tun. Wann werden Kinder gewaltbereit? 

Ein Kind wird aggressiv, wenn man es stark bedrängt oder nicht auf seine Bedürfnisse eingeht. Wenn es realisiert, dass andere Kinder auch Bedürfnisse und Wünsche haben und dass diese Wünsche ebenso berechtigt sind wie die eigenen, packt es womöglich nicht gleich die Fäuste aus. Es braucht also Einfühlungsvermögen. Diese Fähigkeit wird erstmals in der Familie geübt und erlernt. Familien unterscheiden sich darin, wie stark sie bei unterschiedlichen Ansichten bereit sind, Lösungen auszuhandeln. Die gesellschaftliche Entwicklung trägt ihren Teil bei: Es wird in der individualisierten Gesellschaft angenommen, dass eigene Wünsche zentraler sind als jene von Mitmenschen. 

Ein zunehmendes Problem stellt auch dar, dass gewisse Eltern depressiv sind. Was macht das mit einem Kind? 

Wir wissen, dass ungefähr ein Drittel der Kinder von Eltern, die unter Depressionen und anderen schwerwiegenden psychischen Erkrankungen leiden, resilient sind, also keine Symptome zeigen. Ungefähr ein Drittel zeigt vorübergehende Verhaltensauffälligkeiten. Sie sind beispielsweise aggressiv oder stören das soziale Miteinander stark. Und ein Drittel entwickelt selber anhaltende psychische Beeinträchtigungen. Was den Ausschlag gibt, wissen wir nicht genau – beziehungsweise ist es eine komplexe Kombination aus verschiedenen Risikofaktoren. Und wenn man von Verhaltensauffälligkeiten spricht, muss man auch bedenken, dass nicht alle Probleme gegen aussen getragen werden. Es gibt auch jene Verhaltensauffälligkeiten, die von den Mitmenschen kaum bemerkt werden. Etwa, wenn Kinder in Angstzustände gelangen und sich gar nicht mehr in die Schule getrauen.

Viele Lehrerinnen und Lehrer nerven sich über die integrative Schule. Sie wünschen sich die Kleinklassen zurück, wo die schwierigen Schüler bis zur Schulreform separiert wurden. Würden Sie eine solche Rückkehr begrüssen?

Prinzipiell halte ich die Separation nicht für eine gute Idee. Denn, was passiert, wenn man zehn verhaltensauffällige Kinder in eine Klasse steckt? Dann ist der Fall klar. Eine Separation führt bei den Betroffenen langfristig nicht zu einer Verbesserung der sozialen Situation, weil sie keine guten Rollenmodelle in der Klasse vorfinden. Klar ist aber, dass Integration nur bis zu einem gewissen Schweregrad der Verhaltensauffälligkeit möglich ist. Wenn ein Kind, und da kehre ich zu den Empathiefähigkeiten zurück, nicht fähig ist, zu verstehen, dass andere Kinder andere Wünsche haben und beispielsweise lesen und schreiben lernen wollen, und unentwegt stört, ist eine Integration nicht möglich.

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