Gruppenarbeit gehört zum Standardinstrumentarium jedes Lehrers, sie hat in der Ausbildung ihren festen Platz. Viele Schultheoretiker neigen dazu, die direkte lehrergesteuerte Instruktion (Frontalunterricht) zu verpönen, deshalb gehören kollaborative Arbeitsformen wie Gruppenarbeit und Projekte seit Jahrzehnten zum Standard in der Lehrerbildung. Das wird oft damit legitimiert, dass dabei nicht nur der fachliche, sondern auch der zwischenmenschliche Aspekt abgedeckt wird. Gruppenarbeit hat demzufolge verschiedene Vorteile, sie
- verbessert und vertieft das Lernen
- entwickelt die sozialen Fähigkeiten
- entwickelt komplexe Lernstrategien
- ermöglicht selbständiges Lernen
- steigert die Teamfähigkeit
Da scheint man es offenbar mit einem
didaktischen Breitband-Heilmittel zu tun zu haben. Soweit die Theorie. In der
Praxis sehe und erlebe ich seit Jahren bei mir und bei engagierten Lehrerkollegen
ein grosses Bemühen, Gruppenarbeit lernwirksam einzusetzen. Doch ganz so
einfach ist dies nicht, offenbar machen die Lehrkräfte etwas falsch, denn an
der Methode kann es ja nicht liegen (siehe oben). Es zeigen sich nämlich immer
wieder dieselben Muster:
- Inaktivität. Man kann sich unter dem Nebel des kollaborativen Arbeitens gut verstecken. Die meisten Schüler geben das auch offen zu und freuen sich auf die nächste Gruppenarbeit, ganz nach dem Motto TEAM (Toll, ein anderer macht’s).
- Ungleiche Arbeitsverteilung. Es ist schwierig, jedem Schüler eine äquivalente Rolle innerhalb der Gruppe zuzuordnen.
- Präsentation. Niemand reisst sich darum, die Resultate der Klasse vorzustellen. Das führt gruppenintern zu einem Wettbewerb, wer das Thema am wenigsten durchschaut. Diese Person fällt dann logischerweise aus dem Rennen. Ein Phänomen, das ich selbst an unzähligen Lehrerweiterbildungen erlebt habe.
- Unfaire Bewertung. Alle Teilnehmer der Gruppe erhalten dieselbe Note. Das ist höchst fragwürdig angesichts der unterschiedlichen Beiträge der einzelnen Gruppenmitglieder.
Zu diesen praktischen Erfahrungen kommt noch ein eklatanter Mangel an soliden wissenschaftlichen Studien, welche die vielen vorgebrachten Vorteile belegen könnten. Sind wir also einem weiteren pädagogischen Trend auf den Leim gekrochen?
Grenzen des Konstruktivismus
Gruppenarbeit basiert auf einem
lernpsychologischen und einem ökonomischen Fundament. Die Theorie des
Konstruktivismus geht davon aus, dass es lohnender sei, wenn sich Schüler den
Stoff möglichst selbst erarbeiten. Der Schüler soll sich vom Lehrer emanzipieren,
der in die Rolle eines Beobachters und Lernbegleiters gedrängt wird. In dieser Funktion
kann er aber nicht immer zum Vorteil des Lernens wirken. Das Alphabet und die
Ziffern beispielsweise sind komplexe und abstrakte Erfindungen unserer
Zivilisation. Lesen und schreiben lernt man nicht selbstentdeckend – sie müssen
vermittelt werden durch bewussten, expliziten Unterricht. Dasselbe gilt für den
Wissensaufbau in den Realienfächern. Hier zeigen sich die Grenzen des Konstruktivismus,
einer Theorie des Lernens, die nicht automatisch auf das Lehren angewendet
werden kann. Jeder Versuch, die Schüler Stoff selbständig mit kollaborativen
Lernformen erarbeiten zu lassen ist nichts anderes als eine enorme
Zeitverschwendung.
Wann machen Gruppenarbeiten trotzdem Sinn? Es
gibt Schulsituationen, die darauf angelegt sind, gemeinsam gemeistert zu
werden, wie z.B. Teamsport oder Gesang und Musik. Gruppenarbeit als Überführung
des industriellen Konzepts der Arbeitsteilung zeigt sich auch an
gemeinschaftlichen Aktivitäten wie dem Papiersammeln, wo meist in Gruppen ein
bestimmtes Revier bearbeitet wird. Ausserdem ist es nach einer Phase von
längerer Einzelarbeit motivierend, zu einer kurzen gemeinschaftlichen Tätigkeit
zu wechseln. Am Ende einer Lerneinheit können Schülergruppen den Stoff
repetieren und andere Positionen anhören und diskutieren. Innerhalb der
Kleingruppe getrauen sie sich eher, Fragen zu stellen. Gruppenarbeit hat also
durchaus seine Berechtigung an der Schule. Sie macht jedoch nur dann Sinn, wenn
die Schüler Verantwortung für ihr Lernen übernehmen können und durch das
besondere Lernarrangement nicht verleitet werden, die gestellte Aufgabe aus den
Augen zu verlieren. Besonders für jüngere Schüler ist dies eine hohe Hürde, die
bei häufiger Anwendung zur Bürde und Last wird. Gruppenarbeit sollte nicht die
direkte Instruktion durch den Lehrer ersetzen, denn wir wissen, dass geführter,
lehrerzentrierter Unterricht sich am vorteilhaftesten für den Lernprozess
auswirkt. Handelt es sich also darum, Faktenwissen zu vermitteln – und davon
gibt es ausreichend – braucht es einen Lehrer, der dieses Wissen kompetent
vermitteln kann.
Wissen als Voraussetzung
In der heutigen Arbeitswelt wird viel in
Teamarbeit erledigt. Um die Schüler fit für «das wirkliche Leben» zu machen,
werden Gruppenarbeiten und Projekte in der Schule geübt. Damit sollen die
Kinder und Jugendlichen schon früh aus der künstlich geschaffenen
Schulsituation herausgeholt werden, um sie mit Problemen und Fragestellungen
aus der realen Welt zu konfrontieren. Das Argument ist wohlbekannt aus der
Diskussion rund um die Digitalisierung der Schule. Stichworte dieser
Unterrichtsphilosophie sind: Lernerautonomie, selbstbestimmtes Lernen,
selbstentdeckendes Lernen, schülerzentriertes Lernen, aber auch altersdurchmischtes
Lernen.
Um entsprechende Aufgaben erfolgreich lösen zu können, brauchen die Schüler viel Wissen und Können, das ihnen aber im Projekt nicht vermittelt wird. Schulprojekte sind deshalb zutiefst ungerecht, da Schüler, welche am wenigsten schwach abschliessen, das nötige Hintergrundwissen notgedrungen anderswo (z.B. im Elternhaus) erworben haben. Es ist ein nobles Ziel, Schülern kritisches Denken und Zusammenarbeit beibringen zu wollen, doch die dazu angewendeten Methoden passen nicht. Der Weg zur Eigenständigkeit führt nicht über möglichst frühes eigenständiges Lernen. Damit Schüler selbständige Problemlöser werden, brauchen sie einen vom Lehrer klar geführten und strukturierten Unterricht. Höchste Zeit also, unsere Erwartungen an Gruppenarbeiten und Projekte zu überdenken.
Literatur:
Tom Bennett “Group Work
for the Good”, American Federation of Teachers, 2015 https://www.aft.org/ae/spring2015/bennett
Daisy Christodoulou,
«Seven Myths about Education”, Routledge, 2014
Urs Kalberer, 18.
August 2020
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen