11. Dezember 2019

Schule ohne Papier


Ein dänisches Gymnasium macht den Unterricht vollständig digital. Papier braucht niemand - ausser man will ausnahmsweise zur Entspannung ein echtes Buch lesen. Ganz wohl ist der Schule dabei jedoch nicht.
Schule ohne Papier und Stift: Diese Gymnasiasten machen nicht mal mehr Notizen von Hand, Luzerner Zeitung, 10.12. von Niels Anner


Das Klassenzimmer gleicht einer Industriehalle, zwanzig Laptops sind aufgeklappt. Die Klasse 3i sitzt an lose verteilten Tischen. Auch die Dänischlehrerin liest vom Computer ab. Der Beamer wirft die Aufgabenstellung zum Thema Expressionismus an die Wand. «Wir schleppen nie Bücher herum», sagt die 19-jährige Jetmira in der Pause, «auch wenn wir eine ganze Bibliothek in der Tasche haben. Eine aus E-Books.» Es sind nicht nur die gedruckten Bücher, die an dieser Schule im ­Süden Kopenhagens fehlen. Es gibt keine Wandtafeln, kein Blatt Papier im Schulzimmer, keine Kugelschreiber. Bloss Laptops.
2012 stellte das Ørestad Gymnasium, kurz OEG, vollständig um. «Wir wollen zeigen, wie eine digitale Gesellschaft funktionieren kann. Und wie man sich darin bewegt», sagt Suzette Tindal, die Ausbildungschefin. Dänemark liegt laut einer soeben publizierten Studie zur Nutzung digitaler Medien im Unterricht international an der Spitze, aber das OEG ist auch ­ für dänische Verhältnisse revolutionär.

Lehrer können die Notizen in der Cloud einsehen
Das Prinzip der Schule ist die Cloud und das Teilen von Dokumenten mit der webbasierten Office-Software Google-Docs. «Du hast alles an einem Ort», sagt die Schülerin Malou. Also Texte, Arbeitsblätter, Lernziele, Stundenpläne und eigene Notizen. Diese können die Lehrer ­jederzeit online einsehen. Daran stört sich offenbar niemand. «Wir sehen so, ob der Stoff verstanden wurde», erklärt Tindal, die Politik und Wirtschaft unterrichtet.

Aufgaben werden natürlich online abgegeben und korrigiert. «Man vergisst nie etwas zu Hause», sagt Mettemarie, Computer und Cloud vereinfachten den Schulalltag. Notizen aus der in Dänemark dreijährigen Gymnasialzeit sind immer nur ein paar Klicks entfernt und lassen sich durchsuchen.

Der 18-jährige Matthew sagt: «Wir sind hier mit der Digitalisierung weiter als die Uni.» Zwar sei die Abhängigkeit vom Computer gross, doch könne man hervorragend interaktiv lernen: Präsentationen zusammenfügen, zu viert am gleichen Dokument schreiben, gemeinsam Aufgaben lösen, auch von zu Hause aus. Immer wieder werden neue Lernformen ausprobiert, etwa flipped classrooms – aufgezeichnete Vorlesungen, welche die Schüler als Vorbereitung schauen. Die Stunde dient dann der Vertiefung.

Die Schüler bleiben zuhause - der Unterricht ist nur virtuell
Zudem gibt es virtuellen Unterricht: Die Klasse bleibt zu Hause, löst Aufgaben, chattet mit dem Lehrer. Die Schule sieht sich als Pionierin, die untersucht, welche neuen Möglichkeiten funktionieren.

Für Lehrerin Tindal biete der virtuelle Unterricht eine Abwechslung, es sei kein Ersatz, weil das Soziale fehle. Die Schüler haben geteilte Ansichten: ­Einige finden es langweilig, andere können sich zu Hause besser konzentrieren.

Omnipräsent ist am OEG selbstredend das Internet, im Guten wie im Schlechten. Doch was Youtube, Facebook und Ablenkungen angeht, haben die Schüler eine klare Haltung: Eigenverantwortung ist entscheidend. «Es ist das, was wir am Gymi lernen: selbständig arbeiten, Deadlines einhalten, uns auf den Unterricht konzentrieren», sagt Malou.
«Wenn du rumsurfst in der Stunde, bist du selber schuld», ergänzt Jetmira, doch natürlich gehe man zwischendurch kurz ins Netz. Die Klasse habe aber abgesprochen, dass Handys in der Tasche blieben.

Am Anfang, sagt Tindal, gebe es einen Kurs zur Nutzung von digitalen Werkzeugen. Themen wie Grenzen des Multitaskings, Quellenkritik, Fake News und Verhalten in sozialen Medien würden laufend behandelt.

Ein Nachteil ist das Kopfweh nach Bildschirmtagen
Ein Problem sind für viele die langen Tage am Bildschirm. Einige erwähnen Kopfweh, andere erzählen, sie würden sich bei längeren Texten Bücher aus der Bibliothek holen. Gedruckte ­Bücher sind nicht verboten, die meisten finden sie allerdings unpraktisch. Unterstreichen und markieren sei ja auch in PDF-Texten und E-Books möglich – plus nach Stichworten suchen. Für einige spielen Bücher fast keine Rolle im Leben. Für andere dagegen ist ein Wälzer zum Anfassen eine Art, zu entspannen. «Ein Buch bedeutet Freizeit», meint Mettemarie.

Für Dominik Petko, Professor für Allgemeine Didaktik und Mediendidaktik an der Universität Zürich, ist bei einem Konzept wie am OEG entscheidend, dass Technologie kein Selbstzweck ist: «Digitale Medien müssen gezielt so eingesetzt werden, dass sie die Unterrichtsqualität verbessern.» Besondere Chancen sieht Petko dann, wenn Technologien zu Werkzeugen der Schülerinnen und Schüler werden, «mit denen sie sich Wissen selbstständig erarbeiten und kreative Problemlösungen entwickeln». Dies seien wichtige Kompetenzen für ein lebenslanges Lernen.

Der Vorteil der Hand­notizen geht verloren
Aber nicht alles gehe mit digitalen Medien besser. Studien hätten aufgezeigt, dass Handnotizen effizienter sind, wenn dadurch Lerninhalte sorgfältiger formuliert und eigenständiger verarbeitet werden. «Letztlich hängt es vom Unterrichtsthema, den geplanten Methoden und dem Vorwissen der Schülerinnen und Schüler ab», sagt der Didaktik-Experte.

Dass das Textverständnis am Bildschirm schlechter sei als auf Papier, glauben am OEG weder die Schüler noch die Lehrer. «Wir erleben keine Schwierigkeiten beim Lesen», sagt Tindal. Da in Dänemark das Gymnasium erst mit der 10. Klasse beginnt, würden die Schüler vor dem OEG lange mit Handschrift und Papier arbeiten. Natürlich müsse die Vertiefung in einen Text gelernt werden. Der Nachteil des Digitalen sei ganz klar, dass die Schüler das Gefühl hätten, alles gehe schnell.

Deshalb werde am OEG wieder vermehrt auch auf Arbeit ohne Computer geachtet. Letztes Jahr wurde die «Leselust» eingeführt. Eine Lektion, in der alle ein gedrucktes Buch lesen müssen; kein Unterrichtsstoff, sondern Belletristik, ein Sachbuch oder auch einen Comic. Auch hier herrscht in den Klassen keine Einigkeit: Was für die meisten eine Auflockerung bedeutet, ist für andere schlicht «vergeudete Zeit».


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