Schlechte Noten für "Mille feuilles", Berner Zeitung, 12.9.2011 von Andrea Sommer
Im Kanton Zürich rebellieren ganze Schulen gegen das eigens fürs
Frühenglisch entwickelte Lehrmittel. Es sei zu kompliziert und überfordere die
meisten. Zudem fehle es an Übungsmaterial, der Aufwand für die Lehrer sei zu
hoch (wir berichteten).
Auch im Kanton Bern ist seit den Sommerferien ein neues Lehrmittel im
Einsatz (siehe Box). «Mille feuilles», so der Name, wurde fürs Frühfranzösisch
ab der dritten Klasse entwickelt. Wie einst das Zürcher Englischlehrmittel, so
priesen die Fachleute auch «Mille feuilles» als Unterrichtsmaterial, das
modernste pädagogische und didaktische Ansprüche erfülle. Margreth Däscher,
Projektverantwortliche bei der Berner Erziehungsdirektion, betonte bei
verschiedenen Gelegenheiten, dass sie «schaurig den Plausch» am neuen Lehrmittel
habe.
Fortschritte kaum messbar
Aber reicht es, wenn Fachleute und vielleicht auch die Schülerinnen und
Schüler den Plausch haben? Oder droht das Frühfranzösischlehrmittel ebenso
Schiffbruch zu erleiden wie das Englischlehrmittel im Kanton Zürich? Laut Urs
Kalberer, Bündner Sekundarlehrer und Sprachdidaktiker, muss die Methode des
Sprachenlernens nicht modern, sondern effektiv sein. Er kennt das umstrittene
Zürcher Englischlehrmittel und hat sich für diese Zeitung mit «Mille feuilles»
auseinandergesetzt. Er stellt dem Lehrmittel kein gutes Zeugnis aus und sieht
durchaus Parallelen zum Zürcher Lehrmittel.
So bei den Lernzielen. Danach sollen die Kinder kommunikative
Handlungsfähigkeit, das Bewusstsein für Sprache und Kulturen sowie
lernstrategische Kompetenzen erwerben. «Das eigentliche Erlernen der Sprache
wird mit Inhalten angereichert, die mit dem Spracherwerb nur indirekt etwas zu
tun haben», sagt Kalberer. Dazu komme, dass sich die Lernziele nur schwer oder
gar nicht überprüfen liessen.
Auch übersteige «Mille feuilles» die intellektuelle Fähigkeit der
meisten Primarschüler. Ein Lernziel laute etwa: «Ich habe gelernt, die
Rückmeldungen und Beurteilungen von Mitschülern als Chance zum Weiterlernen zu
nutzen.» Laut Kalberer ein sehr ambitioniertes Ziel für einen Maturanden. «Aber
was soll ein Drittklässler damit konkret anfangen?»
Umstrittenes Konzept
«Mille feuilles» basiere zudem, wie das Zürcher Lehrmittel auch, auf dem
sogenannten handlungsorientierten Lernen. Ein laut Kalberer sehr zeitintensives
Konzept, das sich für motivierte Erwachsene, nicht aber für Primarschüler
eignet. Ausserdem stelle das Lehrmittel sehr hohe Anforderungen an das
organisatorische Geschick der Lehrkraft: «Unverständlich, dass man eine derart
umstrittene Methode flächendeckend einsetzt.»
Kalberer kritisiert auch den linguistischen Ansatz des Lehrmittels.
Dieser sieht vor, das Hören und Verstehen in der Fremdsprache zu fördern. Dafür
wäre jedoch viel mehr Input und eine hervorragende Sprachkompetenz der Lehrer
nötig, sagt Kalberer. «Mit nur drei Wochenlektionen fehlt allerdings die Zeit.»
Der Input werde zudem durch die langen deutschen Sequenzen im Lehrmittel
zusätzlich verringert.
Fachleute ohne Plan?
Kalberers Fazit zu «Mille feuilles» ist vernichtend: «Bei den Lehrmitteln
zeigt sich, dass die Promotoren des frühen Sprachunterrichts nicht wissen, wie
man Primarschülern eine Fremdsprache beibringt.» Zwar haben die sechs
Passepartout-Kantone die Entwicklung von «Mille feuilles» nicht finanziert. Sie
haben sich gegenüber dem Schulverlag jedoch verpflichtet, das Lehrmittel zu
nutzen. Bleibt die Hoffnung des Berner Erziehungsdirektors Bernhard Pulver
(Grüne), dass die Kinder mit Frühfranzösisch die Hemmungen verlieren, in der
fremden Sprache zu sprechen. Doch auch hier zweifelt Kalberer: «Spätestens mit
der Pubertät sind alle Hemmungen wieder da.»
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