Der Lehrplan 21 ist ein Riesenprojekt. Er fordert Volksschulen und
Familien. Primarschüler und ihre Eltern wissen meist nur so viel darüber, als
dass damit das neue Fach «Medien und Informatik» eingeführt wird. Und
sogenannte Kompetenzen mehr Gewicht erhalten. In Schulen, die schon nach dem
Lehrplan 21 unterrichten, hören Eltern dann immer öfter von neuen
Spielprogrammen zum Rechnen oder einem programmierbaren Roboter.
Swisscom und Co. springen vor den Klassen als Lehrer ein, Blick, 5.11. von Claudia Gnehm
Nicht nur um die IT-Kompetenzen des Nachwuchses, sondern auch um die von
Mama und Papa kümmern sich die Schulen. Eltern berichten von Primarschülern,
die Flyer nach Hause bringen: «Einladung zum Elternabend» über Internet- und
Social-Media-Themen steht auf einem, der BLICK vorliegt. Zuunterst auf dem
Anmeldetalon steht, leicht zu übersehen: «Elternabend von Swisscom». Auf der
Internet-Agenda der betreffenden Zürcher Schule ist von einem «Swisscom
Medienkurs für Eltern» die Rede.
Ein Konzern als Veranstalter eines Elternabends in der Primarschule? Das
wirft Fragen auf. Zum Beispiel jene, ob mit dem Unterricht durch Swisscom und
Co. auch gleich das passende Abo für Internet und Telefon beworben wird.
Swisscom unterrichtet Tausende Volksschüler
Den meisten Eltern ist heute gar nicht bewusst, dass Konzerne wie
Swisscom oder IBM nicht nur Computerausstattung und Software in die Schulen
bringen, sondern vermehrt auch Lehrmittel, und neuerdings auch breitflächig
Elternabende ausrichten. So geben die Konzerne auch Schulstunden über Roboter,
Digitalisierung und andere Informatikthemen.
Recherchen zeigen: Allein im letzten Jahr haben Swisscom-Pädagogen rund
30’000 Volksschülerinnen und -schüler unterrichtet, wie der Leiter des
Swisscom-Projekts «Schulen ans Internet», Michael In Albon, auf Anfrage sagt.
Der Unterricht richte sich seit 2015 auf den Lehrplan 21 aus.
Werden Roboter dereinst die Lehrer ersetzen?
Künstliche Intelligenz (KI) werde keinen Halt machen vor dem
Bildungssystem, zeigt sich Beat Zemp (63) überzeugt. Der Präsident des
Dachverbandes Schweizer Lehrer kann sich gut vorstellen, dass Lehrer dereinst
mit KI-Assistenz arbeiten, vor allem bei den Lernkontrollen und dem
Spracherwerb. «Ich glaube aber nicht, dass Roboter Lehrpersonen ersetzen
werden», sagt er weiter. Personen, die Schüler prägten, seien aus Fleisch und
Blut und hätten emotionale Intelligenz. «Wir sind noch nicht so weit, dass sich
Roboter echt Sorgen machen können um Schüler», so Zemp.
Selbst bei Google ist die «Vollautomatisierung» der Lehrer kein Thema.
Die Leiterin Augmented Reality bei Google, Petra Ehmann (33), sagte an einem
Podium der Juventus-Schulen: «Lehrpersonen wird es immer geben, aber sie werden
sich auf andere Aufgaben konzentrieren als etwa das Korrigieren.» Google engagiere
sich immer mehr im Schulbereich, wolle dabei aber nicht nur die Digitalisierung
vorantreiben, sondern auch die Diversität fördern.
Für Professor Roland Siegwart, Leiter Autonomous Systems Lab an der ETH
Zürich, kann die Videoüberwachung im Schulzimmer sinnvoll sein, wenn die
Datenanalysen helfen, die Kinder effizienter zu begleiten. «Man sollte keine
Angst haben vor den neuen Technologien, denn sie sind bereits omnipräsent»,
sagt er. Das Wichtigste, was die Schüler üben sollten für die digitalisierte Zukunft,
sei denken zu lernen. Deshalb müsse man das Hirn trainieren. Dies komme leider
oft zu kurz.
So geben Swisscom-Pädagogen zum Beispiel für die dritte oder vierte
Klasse Lektionen zum Thema «Ab ins Internet». Vier Lektionen kosten die Schule
340 Franken, je nach deren finanzieller Kapazität. Mit 580 Franken etwas teurer
ist der Robotik-Unterricht für die Mittelstufe. Alle Unterlagen sowie den
Miniroboter Thymio stellt Swisscom zur Verfügung. «Die Einführung des Lehrplans
21 in diversen Deutschschweizer Kantonen hat ganz klar zu einer erhöhten
Nachfrage geführt», sagt In Albon. Ausserdem integrierten immer mehr Schulen
die Swisscom-Kurse in ein grösseres Medienkonzept für die ganze Schule.
Schulen überrascht von neuen Aufgaben
Am Swisscom-Elternabend wiederum sollen die Eltern lernen, was
«altersgerechte Medienbegleitung» ist. Letztes Jahr erreichte Swisscom damit
6000 Eltern. IBM hat dieses Jahr 8500 Schüler, Eltern und Lehrer unterrichtet,
wie Jacqueline Spühler von IBM Schweiz sagt.
Gründe für die grosse Nachfrage der Schulen sind offenbar die
ungenügende Vorbereitung auf das neue IT-Zeitalter – auch mangels Kapazitäten.
«Die Schulen wirken manchmal überrascht über die Einführung des Lehrplans,
obschon dieser bereits 2014 in ersten Versionen vorlag», sagt
Swisscom-Schulexperte In Albon. Zudem seien Lehrmittel zur digitalen Bildung
aktuell erst dünn gesät. «Die Lehrmittelverlage müssen hier rasch Remedur
schaffen», betont er.
An guten Fachpersonen fehle es den Pädagogischen Hochschulen nicht, die
die Lehrer ausbilden, glaubt In Albon. Das Problem liege bei den Kapazitäten,
die heutigen Lehrkräfte in nützlicher Zeit mit Basics zur Medienpädagogik und
zur praktischen ICT-Anwendung im Schulalltag fit zu machen. Ans Limit bringt
das Fach «Medien und Informatik» die Schulen auch, weil das ICT-Wissen eine
kurze Verfallszeit hat. «Es muss regelmässig wieder aufgefrischt werden», so In
Albon.
Mangel an Ressourcen
Auch die Leiterin der Bildungsprogramme bei Microsoft Schweiz, Claudia
Balocco, sieht den Engpass bei den Kapazitäten. Jetzt ginge es darum, die
Lehrpersonen zu schulen. Doch die Pädagogischen Hochschulen hätten zu wenige
Ressourcen, um die neuen Inhalte zu vermitteln.
Was sagt der Zentralpräsident des Dachverbandes der Lehrer (LCH), Beat
Zemp, zur Ausbreitung von Swisscom und Co. in den Klassenzimmern? Für
Zemp ist es nicht problematisch, wenn die IT-Unternehmen auf den
gestiegenen Bedarf der Schulen reagieren. Dies solange sie den Grundregeln der
Ausgewogenheit und den qualitativen Anforderungen entsprächen.
Er räumt allerdings Mängel ein. Beispielsweise, dass die Schulen stark
gefordert seien und Klassenlehrpersonen laufend Weiterbildungen besuchen
müssten, um bei den Inhalten auf dem neusten Stand zu sein. «Dazu fehlen sowohl
das Geld als auch die Zeit», sagt Zemp weiter. Es liege daher auch an der
Bildungspolitik, die notwendigen Ressourcen für Kurse und
Unterrichtsmaterialien zur Verfügung zu stellen.
Aus der Sicht des Erziehungswissenschaftlers Jürgen Oelkers sollte die
Schule Grundlagen vermitteln und nicht jedem Technologiesprung folgen. Er warnt
zudem vor einem Outsourcing der Fächer ohne Verankerung bei der Lehrerschaft:
«Das wäre gefährlich und vermutlich auch wirkungslos.»
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