Demokratie
braucht Bildung, wie Bildung auf Demokratie angewiesen ist. Soweit reicht der
Konsens in der helvetischen Bildungsdebatte. Doch in der Frage, ob das
Verhältnis der beiden beschädigt sei, gehen die Meinungen auseinander. Das
Spannungsfeld zwischen Schulreformen und Demokratie stand im Zentrum einer
Veranstaltung im deutschen Wuppertal, die Lehrer, Eltern und
Bildungswissenschaftler aus Österreich, der Schweiz und Deutschland anlockte.
Im folgenden Artikel werden problematische Entwicklungen im Kontext der
Diskussion um die Kompetenzorientierung der Lehrpläne benannt.
Change Management Beispiel aus dem Kanton Thurgau, Bild: Urs Kalberer
Widerstand gegen intransparente Steuerung im Bildungssystem, Urs Kalberer, 7.2.
Im
Vorfeld der Implementierung des neuen Lehrplans in der Schweiz kam es in
verschiedenen Kantonen zu Unsicherheiten, in welchem Mass das Volk oder die
Parlamente bemächtigt seien, das Werk oder Teile daraus zu legitimieren. Diese
Ungewissheit spiegelte sich in Parlaments- oder sogar Gerichtsentscheiden,
welche die umstrittene Rechtslage zu klären versuchten. Ins Auge sticht dabei,
dass sich die Regierungen einheitlich und hartnäckig dagegen sträubten, Macht
abzutreten, wobei sie bei Bedarf auch von den Parlamenten unterstützt wurden.
Im Fall des Lehrplans 21 mit seiner von der OECD-induzierten Ausrichtung auf
Kompetenzen entzog man diesen dem direkten Zugriff des Volkes und verunmöglichte
damit ein direktes Referendum. Auch
interkantonale Vereinbarungen wie Harmos oder der Bildungsartikel 62 in der
Bundesverfassung, der die Eckwerte der Volksschule umreisst, lassen das Volk
nur noch beschränkt agieren. Diese „Teilentmachtung“ ist umso befremdlicher,
als die Kantone nach wie vor vorgeben,
die Bildungshoheit innezuhaben.
Die
mittlerweile zu Tage tretenden Schwächen der Kompetenzorientierung entfachten
den Widerstand gegen dieses umstrittene Experiment. Kompetenzorientierter
Unterricht scheint nicht die erhofften Resultate zu bringen, dies zeigen
Einschätzungen von Lehrern und Evaluationen. PISA weist bei Ländern, die auf
Kompetenzorientierung umgepolt wurden, eindrückliche Abstürze nach. Der
österreichische Philosoph und Kulturpublizist Konrad Paul Liessmann spricht in
diesem Zusammenhang von einer „ergebnisgesicherten Unbildung“. Eine sich immer
stärker für Bildungsfragen interessierende Schweizer Öffentlichkeit erfuhr von
unbrauchbaren kompetenzorientierten Lehrmitteln und damit verbundenen
unerwartet schwachen Schülerleistungen.
Innovation bedeutet nicht Fortschritt
Im
Schweizer Kontext ist bemerkenswert, wie konsequent einer sachorientierten
Debatte in dieser Frage ausgewichen wird. Die Idee der Demokratie als
Wettstreit der Argumente wird so ausser Kraft gesetzt. Neuerungen können in der
Politik als Wandel, Fortschritt oder Innovation gehandelt werden. Im Unterschied zum wertneutralen Begriff
Wandel gründet Fortschritt auf definierten Massstäben und ist daher auch
messbar. Innovation jedoch genügt sich darin, das Alte niederzureissen, im
Glauben, alles Neue sei per se besser. Aus dieser Optik ist es unangebracht den
Reformkritikern vorzuwerfen, sie hätten Angst vor Veränderung und
Innovation - sie haben bloss
berechtigte Angst vor Verschlechterungen
und deren Auswirkungen auf die Volksschule und die Zukunft unserer Demokratie.
Wer Bildung, wie der auf Output-Steuerung
ausgerichtete Lehrplan 21, als messbares Endprodukt eines
„Fertigungsprozesses“ versteht, zerstört nicht nur die Bildung selbst, sondern
schädigt damit auch die Demokratie. Junge Menschen sollen lernen zu denken und
nicht nur äusserlich zu funktionieren. Nur ein Bildungsbegriff, der neben dem
wirtschaftlich-verwertbaren auch nicht
messbare Qualitäten zulässt, verdient diesen Namen. Der renommierte deutsche
Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin prognostiziert mit Hinweis auf die
wachsende Studierunfähigkeit vieler Studenten reformbedingte Folgeschäden, die
uns noch jahrzehntelang beschäftigen würden.
Intransparente Lenkungsstrategien
Neben
der sozialen Ächtung widerspenstiger Lehrer zeigt uns die Bildungsbürokratie
ungeniert ihr weiteres Instrumentarium, um den Druck auf mögliche Abweichler zu
erhöhen. Mit überlangen, teils infantilen Weiterbildungen sollen auch erfahrene
und hochprofessionelle Lehrer weichgekocht werden. Mit obligatorisch
verordneten und flächendeckend einzusetzenden Lehrmitteln wird das Prinzip der
Methodenfreiheit – ein Grundsatz demokratischer Pädagogik – ernsthaft in Frage
gestellt. Wie kommt der Staat dazu, aufgrund einer Theorie (Konstruktivismus)
eine entsprechende Methode (individuelles, selbst entdeckendes Lernen)
flächendeckend vorzuschreiben? Was verstehen Beamte von Unterricht?
Weitere
Mittel der Lenkung sind der im Thurgau bekannt gewordene „Classroom
Walkthrough“, der zur Kontrolle und Massregelung dient oder das Verbot für
Lehrer, direkt mit den Medien in Kontakt zu treten, wie es im Kanton
Basel-Stadt praktiziert wird. Die entscheidende Rolle vieler Schulleiter als
Erfüllungsgehilfen der Administration darf ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.
So wird durch den Eindruck von hektischer Betriebsamkeit (Steuergruppen,
Weiterbildungen, kollegialer Austausch) allfälligen Kritikern der Wind aus den
Segeln genommen. Solch manipulative Steuerungstechniken gehören angesprochen
und hinterfragt.
Gebrochenes Selbstwertgefühl
Besonders
auf der Primarschulstufe zeigt sich, wie in den letzten Jahren der Druck auf
die Lehrer sukzessiv erhöht wurde. Inklusion, die den Heilpädagogen die Türen
zum Klassenzimmer öffnet , ein weitgehend wirkungsloser
Fremdsprachenunterricht, neue Methoden wie Binnendifferenzierung, Schreiben
nach Gehör, Team-Teaching und Altersdurchmischung, welche die bereits
vorhandene, grosse Heterogenität der Schülerschaft künstlich noch erhöht,
strapazieren die Belastbarkeit der Lehrer bis ans Limit. Was Wunder, wenn diese
das Gefühl entwickeln, den Anforderungen nicht mehr zu genügen und sich nach
neuen Rezepten umschauen, welche sie hoffnungsvoll in die Arme der Reformer
treibt. Besonders junge und unerfahrene Lehrer werden so zu willigen
Vollstreckern der bereits während der Ausbildung eingeübten Heils-Praktiken.
Wenn
der Organisator der Tagung, der an der Bergischen Universität Wuppertal
lehrende Pädagoge Jochen Krautz, die Teilnehmer angesichts des
fremdgesteuerten, antiaufklärerischen Reformprogramms aufruft „das Schwere zu
tun“, dann erinnert er zwangsläufig an Max Frisch: Was dieser seinerzeit auf
den Zustand der Welt bezogen hat, lässt sich heute folgerichtig in eine pädagogische
Dimension übersetzen: Ein Aufruf zur Hoffnung ist heute ein Aufruf zum
Widerstand.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen