8. Februar 2018

Widerstand gegen intransparente Steuerung im Bildungssystem

Demokratie braucht Bildung, wie Bildung auf Demokratie angewiesen ist. Soweit reicht der Konsens in der helvetischen Bildungsdebatte. Doch in der Frage, ob das Verhältnis der beiden beschädigt sei, gehen die Meinungen auseinander. Das Spannungsfeld zwischen Schulreformen und Demokratie stand im Zentrum einer Veranstaltung im deutschen Wuppertal, die Lehrer, Eltern und Bildungswissenschaftler aus Österreich, der Schweiz und Deutschland anlockte. Im folgenden Artikel werden problematische Entwicklungen im Kontext der Diskussion um die Kompetenzorientierung der Lehrpläne benannt.
Change Management Beispiel aus dem Kanton Thurgau, Bild: Urs Kalberer
Widerstand gegen intransparente Steuerung im Bildungssystem, Urs Kalberer, 7.2.

Im Vorfeld der Implementierung des neuen Lehrplans in der Schweiz kam es in verschiedenen Kantonen zu Unsicherheiten, in welchem Mass das Volk oder die Parlamente bemächtigt seien, das Werk oder Teile daraus zu legitimieren. Diese Ungewissheit spiegelte sich in Parlaments- oder sogar Gerichtsentscheiden, welche die umstrittene Rechtslage zu klären versuchten. Ins Auge sticht dabei, dass sich die Regierungen einheitlich und hartnäckig dagegen sträubten, Macht abzutreten, wobei sie bei Bedarf auch von den Parlamenten unterstützt wurden. Im Fall des Lehrplans 21 mit seiner von der OECD-induzierten Ausrichtung auf Kompetenzen entzog man diesen dem direkten Zugriff des Volkes und verunmöglichte damit ein direktes Referendum.  Auch interkantonale Vereinbarungen wie Harmos oder der Bildungsartikel 62 in der Bundesverfassung, der die Eckwerte der Volksschule umreisst, lassen das Volk nur noch beschränkt agieren. Diese „Teilentmachtung“ ist umso befremdlicher, als die Kantone nach wie vor vorgeben,  die Bildungshoheit innezuhaben.

Die mittlerweile zu Tage tretenden Schwächen der Kompetenzorientierung entfachten den Widerstand gegen dieses umstrittene Experiment. Kompetenzorientierter Unterricht scheint nicht die erhofften Resultate zu bringen, dies zeigen Einschätzungen von Lehrern und Evaluationen. PISA weist bei Ländern, die auf Kompetenzorientierung umgepolt wurden, eindrückliche Abstürze nach. Der österreichische Philosoph und Kulturpublizist Konrad Paul Liessmann spricht in diesem Zusammenhang von einer „ergebnisgesicherten Unbildung“. Eine sich immer stärker für Bildungsfragen interessierende Schweizer Öffentlichkeit erfuhr von unbrauchbaren kompetenzorientierten Lehrmitteln und damit verbundenen unerwartet schwachen Schülerleistungen.

Innovation bedeutet nicht Fortschritt
Im Schweizer Kontext ist bemerkenswert, wie konsequent einer sachorientierten Debatte in dieser Frage ausgewichen wird. Die Idee der Demokratie als Wettstreit der Argumente wird so ausser Kraft gesetzt. Neuerungen können in der Politik als Wandel, Fortschritt oder Innovation gehandelt werden.  Im Unterschied zum wertneutralen Begriff Wandel gründet Fortschritt auf definierten Massstäben und ist daher auch messbar. Innovation jedoch genügt sich darin, das Alte niederzureissen, im Glauben, alles Neue sei per se besser. Aus dieser Optik ist es unangebracht den Reformkritikern vorzuwerfen, sie hätten Angst vor Veränderung und Innovation  - sie haben bloss berechtigte  Angst vor Verschlechterungen und deren Auswirkungen auf die Volksschule und die Zukunft unserer Demokratie. Wer Bildung, wie der auf Output-Steuerung  ausgerichtete Lehrplan 21, als messbares Endprodukt eines „Fertigungsprozesses“ versteht, zerstört nicht nur die Bildung selbst, sondern schädigt damit auch die Demokratie. Junge Menschen sollen lernen zu denken und nicht nur äusserlich zu funktionieren. Nur ein Bildungsbegriff, der neben dem wirtschaftlich-verwertbaren auch nicht messbare Qualitäten zulässt, verdient diesen Namen.  Der renommierte deutsche Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin prognostiziert mit Hinweis auf die wachsende Studierunfähigkeit vieler Studenten reformbedingte Folgeschäden, die uns noch jahrzehntelang beschäftigen würden.

Intransparente Lenkungsstrategien
Neben der sozialen Ächtung widerspenstiger Lehrer zeigt uns die Bildungsbürokratie ungeniert ihr weiteres Instrumentarium, um den Druck auf mögliche Abweichler zu erhöhen. Mit überlangen, teils infantilen Weiterbildungen sollen auch erfahrene und hochprofessionelle Lehrer weichgekocht werden. Mit obligatorisch verordneten und flächendeckend einzusetzenden Lehrmitteln wird das Prinzip der Methodenfreiheit – ein Grundsatz demokratischer Pädagogik – ernsthaft in Frage gestellt. Wie kommt der Staat dazu, aufgrund einer Theorie (Konstruktivismus) eine entsprechende Methode (individuelles, selbst entdeckendes Lernen) flächendeckend vorzuschreiben? Was verstehen Beamte von Unterricht?

Weitere Mittel der Lenkung sind der im Thurgau bekannt gewordene „Classroom Walkthrough“, der zur Kontrolle und Massregelung dient oder das Verbot für Lehrer, direkt mit den Medien in Kontakt zu treten, wie es im Kanton Basel-Stadt praktiziert wird. Die entscheidende Rolle vieler Schulleiter als Erfüllungsgehilfen der Administration darf ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. So wird durch den Eindruck von hektischer Betriebsamkeit (Steuergruppen, Weiterbildungen, kollegialer Austausch) allfälligen Kritikern der Wind aus den Segeln genommen. Solch manipulative Steuerungstechniken gehören angesprochen und hinterfragt.

Gebrochenes Selbstwertgefühl
Besonders auf der Primarschulstufe zeigt sich, wie in den letzten Jahren der Druck auf die Lehrer sukzessiv erhöht wurde. Inklusion, die den Heilpädagogen die Türen zum Klassenzimmer öffnet , ein weitgehend wirkungsloser Fremdsprachenunterricht, neue Methoden wie Binnendifferenzierung, Schreiben nach Gehör, Team-Teaching und Altersdurchmischung, welche die bereits vorhandene, grosse Heterogenität der Schülerschaft künstlich noch erhöht, strapazieren die Belastbarkeit der Lehrer bis ans Limit. Was Wunder, wenn diese das Gefühl entwickeln, den Anforderungen nicht mehr zu genügen und sich nach neuen Rezepten umschauen, welche sie hoffnungsvoll in die Arme der Reformer treibt. Besonders junge und unerfahrene Lehrer werden so zu willigen Vollstreckern der bereits während der Ausbildung eingeübten Heils-Praktiken.

Wenn der Organisator der Tagung, der an der Bergischen Universität Wuppertal lehrende Pädagoge Jochen Krautz, die Teilnehmer angesichts des fremdgesteuerten, antiaufklärerischen Reformprogramms aufruft „das Schwere zu tun“, dann erinnert er zwangsläufig an Max Frisch: Was dieser seinerzeit auf den Zustand der Welt bezogen hat, lässt sich heute folgerichtig in eine pädagogische Dimension übersetzen: Ein Aufruf zur Hoffnung ist heute ein Aufruf zum Widerstand.

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