Unabhängig davon, wie sich die Zürcher Stimmbürger am 4. März
hinsichtlich Mitsprache in Lehrplanfragen entscheiden: Der neue Bildungskompass
wird nach den Sommerferien eingeführt.
Zürich macht sich für den Lehrplan 21 fit, NZZ, 14.2. von Lena Schenkel
Es ist ein dicker weisser Ordner, der bei Nora Bussmann auf dem Pult
liegt: 516 Seiten, bedruckt mit Tabellen in allerlei Farben und Formen.
«Lehrplan 21» steht auf dem Rücken. Dass die Schulleiterin der Primarschule Im
Birch in Zürich Oerlikon ihn ausgedruckt hat, ist nicht selbstverständlich.
Nicht nur, weil er bloss noch elektronisch vorliegt. «Den Lehrplan behandelt
man in der Ausbildung», sagt die gelernte Primarlehrerin, «danach bleibt er
meist im Regal.» Wichtiger seien die daraus erarbeiteten Lehrmittel, die
Mathematik- oder Französischbücher, mit denen die Lehrer ihren Unterricht
hauptsächlich gestalteten.
Pädagogisch sinnvoll
Bussmann ist an ihrer Schule federführend für die Umsetzung des neuen
Lehrplans, der im Kanton Zürich nach den Sommerferien eingeführt wird. «Es wird
nicht alles anders», sagt sie in Hinblick auf die Neuerungen.
Lediglich die Perspektive habe sich ein wenig verändert. Die Lernziele nach
Kompetenzen der Schüler auszurichten, entspreche in der Aus- und Weiterbildung
aber längst dem Standard. Dass Lehrer laut Gegnern des Lehrplans 21 zu «Coachs»
degradiert würden, empfindet sie nicht so. Es entspreche einem modernen
Verständnis, dass der Unterricht nicht mehr derart lehrerzentriert sei; dass
Schüler ihre Lernwege vermehrt selber gehen, sei pädagogisch sinnvoll.
«Das schliesst Frontalunterricht ja nicht aus», sagt sie; die Ausbilder
seien weiterhin frei in der Wahl ihrer Methoden. Die Lehrer dennoch gemeinsam
auf Kurs zu bringen, ist die Aufgabe Bussmanns. Inhaltliche Überzeugungsarbeit
muss sie dafür nicht leisten: «In meinem Team trauert niemand dem alten
Lehrplan nach.» Für die Unterrichtsplanung sei dieser von geringem Nutzen
gewesen. Nachdem Bussmann letzten Sommer wie alle Schulleiter im Kanton einen
Weiterbildungstag besuchte, sind nun die Lehrerinnen und Lehrer dran. Neben
individuellen Kursen schenkt der Kanton jeder Schule insgesamt drei interne,
unterrichtsfreie Weiterbildungstage und einen an der Pädagogische Hochschule
Zürich (PHZH), um sich in Themen wie Beurteilung oder kompetenzorientierten
Unterricht zu vertiefen – sofern sie zuvor selbstorganisiert entsprechende
Online-Einheiten bearbeitet haben.
Bereits hätten sich 80 Prozent aller Schulen dafür angemeldet, sagt
PHZH-Rektor Heinz Rhyn auf Anfrage. Es ist eines von derzeit 17 Angeboten,
welche die Hochschule rund um den Lehrplan 21 bietet – von der
Informationsveranstaltung über punktuelle stundenweise Unterstützung bis zu
mehrtägigen Kursen, die wiederum durch Selbststudium ergänzt werden. Der Kanton
bezahlt den teilnehmenden Lehrern sechs davon. So können etwa
Haushaltskunde-Lehrer kostenlos ihre Kenntnisse auffrischen, damit sie für das
Unterrichten des neuen Fachs Wirtschaft, Arbeit, Haushalt gewappnet sind. Jene,
die Religion und Kultur unterrichten, können ihr Ethik-Wissen vertiefen.
Um den Ansturm auf die Weiterbildungen abzufedern, beschäftigt die PHZH
während anderthalb Jahren bis zu vier Personen zusätzlich. Insgesamt aber
würden die Ressourcen vor allem anders verteilt. Den Vorwurf, von einem neuen
Lehrplan profitiere in erster Linie die Bildungsindustrie, lässt Rektor Rhyn
deswegen nicht gelten: «Wir leisten eher mehr mit denselben Mitteln», sagt er.
Obwohl seine Hochschule dabei durchaus an Grenzen stosse, sei es ihm aus seiner
Sicht lieber, dass die Einführung zügig über die Bühne gehe.
Trotzdem mussten etwa die Ausbildungsplätze für das neue Fach Medien und
Informatik kontingentiert werden: in der Regel auf ein oder zwei Lehrer pro
Schulhaus und Jahr. Bis zum Sommer werden rund 600 Ausbilder den Kurs
absolviert haben. Einige, bisher 44, erhalten die Unterrichtsberechtigung ohne
Kurs; weil sie eine entsprechende Vorbildung haben. Alle erhielten bereits
Auszüge aus dem neuen Lehrmittel «Connected», das laut Rhyn im Juni vorliegen
soll.
«Das glaube ich erst, wenn ich es in den Händen halte», sagt darauf
Primarlehrerin Katrin Meier, die im Verband des Personals öffentlicher Dienste
(VPOD) der Sektion Lehrberufe vorsteht. Die meisten Lehrer könnten sich wohl
erst in den Sommerferien vorbereiten. Für Ethik fehle das Lehrmittel ganz –
noch bis 2020. Nicht ideal findet sie überdies, dass viele Schüler während der
Übergangszeit von einem zusätzlichen Lehrer im neuen Fach Medien und Informatik
unterrichtet werden müssen. Einerseits liessen sich viele Inhalte
sinnvollerweise auch in anderen Fächern unterbringen, andererseits sei es
pädagogischer Konsens, dass möglichst wenige Lehrer an einer Klasse
unterrichteten.
Ein Hauch von Harmonisierung
Meier versuchte erfolglos, die Einführung des neuen Lehrplans mit einer
Einzelinitiative im Kantonsrat zu stoppen. Nicht weil sie inhaltlich dagegen
gewesen wäre – im Gegenteil: Sie findet, er werde übereilt und dadurch zu wenig
konsequent umgesetzt. So müssten Lehrer ihrer Meinung nach auch im Zeugnis
Kompetenzen beurteilen, statt Noten zu vergeben: «Würden diese zum Beispiel als
Linie oder Karte gezeigt», erklärt sie, «bewegten sich selbst schwache Schüler
immer vorwärts.» Das sei motivierender als eine ungenügende Note. Und für
Arbeitgeber sei es statt einer 4,5 in Mathematik sinnvoller zu wissen, dass ein
potenzieller Lehrling gut im Kopfrechnen, aber schlecht in Geometrie sei.
In dieselbe Kerbe schlägt der Zürcher Lehrerverband: Nicht nur seien die
Zeugnisse nicht kompetenzorientiert – sie seien auch nicht harmonisiert; ebenso
wenig wie die kantonalen Stundentafeln. «Wir spüren erst einen Hauch von
Harmonisierung», sagt Präsident Christian Hugi. Gleichwohl versteht er, dass
man den Lehrplan angesichts des immer noch schwelenden Widerstands nicht
unnötig überladen und damit gefährden wollte. Vielleicht habe die kantonale
Volksinitiative sogar zum überhöhten Tempo geführt.
Schulleiterin Bussmann beschäftigen derweil konkretere Probleme: Weit
mehr als der Lehrplan stellt sie die neue Stundentafel vor organisatorische
Herausforderungen. Weil sich die Lektionenzahl innerhalb derselben Stufe neu
stärker unterscheidet, schwanken auch die Pensen von Lehrern von Schuljahr zu
Schuljahr. Zum Glück seien ihre Kollegen sehr flexibel. Bussmann hilft nach,
indem sie die betroffenen Ausbilder in anderen Bereichen einsetzt. Immerhin
dafür biete der neue Berufsauftrag, mit dem Schulen Lehrer nicht mehr nach
Lektionen, sondern nach Beschäftigungsgrad anstellen, Vorteile. Generell sorge
dieser aber für weit mehr Unruhe in den Lehrerzimmern als der neue Lehrplan.
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