13. August 2017

Ritalin widerrechtlich abgegeben

Damit sie in der Schule besser sind, erhalten viele gesunde Kinder Ritalin. Das ist wohl ein Gesetzesverstoss. 
Ritalin für bessere Schulleistungen, NZZaS, 13.8. von Katharina Bracher


Die sechzehnjährige Tochter droht wegen ungenügender Leistungen vom Gymnasium zu fliegen. Unter der Woche schläft sie wenig und trinkt Red Bull gegen die Müdigkeit. In der Schule kann sie sich nicht konzentrieren. Die Eltern bringen das Mädchen zum Arzt, der überweist es in ein Schlaflabor und von dort zum Neurologen. Dieser stellt kein medizinisches Problem fest, er rät zu mehr Ruhe und Koffeinverzicht. Doch das haben die Eltern ihrer Tochter schon vorgeschlagen – ergebnislos. Die Mutter fragt den Arzt nach Methylphenidat, Handelsname Ritalin. Das Medikament wird eingesetzt zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) und soll die Konzentrationsfähigkeit steigern. Ob er es abgebe? Der Arzt weigert sich. Für den Einsatz von Ritalin fehle jede medizinische Indikation; die Tochter sei gesund. Als sich die Situation des Mädchens nach Wochen nicht verbessert, willigt der Arzt ein, versuchsweise Methylphenidat abzugeben.

Im Beispiel aus einem Elternforum verhalten sich die Eltern und möglicherweise der Arzt gesetzeswidrig. Das legt die Untersuchung der Rechtswissenschaftlerin Tanja Trost nahe; sie hat in ihrer Dissertation das Phänomen des «Cognitive Enhancement», auch Hirndoping genannt, bei Minderjährigen aus erziehungs- und persönlichkeitsrechtlicher Sicht beleuchtet. Die Juristin nimmt sich eines Graubereichs der Rechtswissenschaft an, der bisher kaum thematisiert worden ist: Wie weit dürfen Eltern gehen, um ihr Erziehungsziel zu erreichen? Dürfen sie Ritalin verabreichen, um dem Nachwuchs schulisch auf die Sprünge zu helfen?

Trost kommt zum Schluss: «Die Verabreichung von Medikamenten wie etwa Ritalin zur Steigerung der mentalen Leistungsfähigkeit an Minderjährige ist nach geltendem Recht verboten.» Die Risiken des medikamentösen Hirndopings seien viel zu hoch. «Es geht nicht um die Behandlung von ADHS, sondern um die Verabreichung zum Beispiel von Ritalin an gesunde Minderjährige», präzisiert Trost. Es lasse sich heute nicht sagen, in welchem Ausmass die Präparate für Kinder gesundheitsschädigend sein können. Auch sei nicht klar, welchen Nutzen sie tatsächlich brächten.

Wie oft Kinder und Jugendliche Ritalin oder andere «Cogni­tive Enhancer» mit oder ohne vorliegende Diagnose verabreicht bekommen, ist in keiner Statistik erfasst. Einige Daten lassen sich aber heranziehen: 1999 betrug die von Arztpraxen und Apotheken abgegebene Menge an Me­thyl­phenidat laut der Arzneimittelbehörde Swissmedic 38 Kilogramm. 2016 waren es mit 344 Kilogramm neunmal mehr. Gleichzeitig stagnierte die Diagnosehäufigkeit von Kindern und Jugendlichen mit ADHS bei drei bis fünf Prozent. Experten gehen darum davon aus, dass ein Grossteil des Ritalins nicht als Medi­kament, sondern als Hirndopingmittel verwendet wird. Eltern, die zu äussersten Mitteln greifen, wenn sie den Schulerfolg des Nachwuchses gefährdet sehen, sind für Patrick Fassbind, den Präsidenten der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) in Basel, gleich zu beurteilen wie solche, die ihre Kinder vernachlässigen. «Einige bauen derart viel Leistungsdruck auf, dass das Kind Symptome einer Erschöpfungsdepression zeigt», sagt er. «Diese Überforderung ist ein ­kindesschutzrechtlich relevantes Problem wie die elterliche Vernachlässigung.» In Fällen, in denen die Eltern ihrem Kind ohne vorliegende Erkrankung Ritalin verabreichten, um die Leistungsfähigkeit zu steigern, sei das Kindswohl gefährdet. «Damit überschreiten sie ihr Erziehungsermessen schwerwiegend, was die Kesb legitimieren würde, einzugreifen», sagt Fassbind. Das geschieht nur selten.

Ob Ritalin ohne Vorliegen eines Befundes an ein Kind abgegeben wird, liegt in der Hand der Ärzte. «Bestimmt gibt es Kinder und ­Jugendliche, die Ritalin erhalten, ohne dass die medizinische Indikation wirklich gegeben ist», sagt Alain Di Gallo, der Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Chefarzt an der Kinder­psych­iatrischen Uniklinik Basel. Ihm sei aber kein Fall bekannt, wo sich ein Arzt von den Eltern habe überzeugen lassen, Ritalin zu verschreiben, obwohl keine Diagnose vorliege. Für Di Gallo gilt: «Me­thyl­phenidat zu verschreiben, wenn dafür keine medizinische Indikation gegeben ist, halte ich für nicht vertretbar.» Die gesundheitlichen Risiken seien zu hoch; gleichzeitig seien leistungssteigernde Effekte auf das gesunde Hirn nie nachgewiesen worden. Ein gesundes, ausgeschlafenes Hirn brauche keine medikamentöse Leistungssteigerung.


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