Innenminister Alain Berset provoziert
den Sprachenstreit. Er gibt vor, den «Zusammenhalt des Landes» zu sichern –
dabei trampelt er die wichtigsten Säulen der Schweiz nieder: direkte Demokratie
und Föderalismus.
Bersets gefährlicher Kampf gegen die Kantone, Weltwoche, Ausgabe 32/2016 von Philipp Gut und Peter Keller
Alain Berset geht in die Offensive. In
mehreren Interviews verschärfte der sozialdemokratische Innenminister den Ton
im Sprachenstreit. Bereits vor der Sommerpause hatte er unbotmässigen Kantonen
gedroht, die sich erfrechten, ihre Hoheit in Bildungsfragen wahrzunehmen und
selbst zu bestimmen, wann welche Fremdsprache gelehrt wird. Im Tages-Anzeiger warnte
Berset deswegen nun vor «belgischen Verhältnissen» – also vor einer zerrissenen
Nation. Noch sei die Schweiz kein gespaltenes Land, aber das könne sich ändern,
doppelte er in der Schweizer Illustrierten nach.
Der Welschfreiburger macht aus dem Sprachenstreit eine Grundsatzdiskussion über das Wesen der Schweiz und der Schweizer.
«Es ist falsch, die Sprache nur als
Kommunikationsmittel zu sehen», so Berset im Tagi.
Die Sprache sei viel mehr: «Sie transportiert auch Kultur, Werte, Geschichte.» In einer Art Nationalismus von links will Berset die Landessprachen zudem als Bollwerk gegen die Globalisierung sehen. Diese habe die Welt zu einem Dorf gemacht, «in dem in der Regel Englisch gesprochen wird». Da sei es umso wichtiger, «zu wissen, wer wir sind und woher wir kommen».
Während er für den «nationalen Zusammenhalt» trommelt und dekretiert: «Es gibt keinen Sprachenkrieg!», facht Berset die Auseinandersetzung selber weiter an. Kantonen, die in bewährter föderalistischer Tradition eigene Lösungen suchen, die sich am Volkswillen und an den Erfahrungen in den Schulstuben orientieren, droht er mit dem Eingreifen der Zentralgewalt. Er manövriert sich damit ohne Not in eine ungemütliche Lage, denn es ist kaum zu erwarten, dass die Kantone einlenken. So könnte Berset am Ende das Gegenteil dessen bewirken, was er zu fördern vorgibt: Eskalation statt Harmonie.
Von
oben diktierte Monokultur
Woher nimmt sich der Innenminister das
Recht, so offensiv in die Sprachendebatte einzugreifen und dabei über alle
innereidgenössischen Gepflogenheiten der politischen Konsensbildung
hinwegzutrampeln? Frühfremdsprachen-Turbos wie Berset verweisen auf den
Bildungsartikel, dem die Schweizer Bevölkerung 2006 zustimmte. Tatsächlich hat
sich damals eine grosse Mehrheit für eine sanfte Harmonisierung des
«Bildungsraums Schweiz» und für ein durchlässiges Ausbildungssystem
ausgesprochen. Dass jungen Menschen mit einer Berufsbildung heute der Weg zu
den (Fach-)Hochschulen offensteht, gehört zu den unbestrittenen
Errungenschaften der schweizerischen Bildungspolitik. Was die Harmonisierung
angeht, so wird allerdings kräftig übersteuert. Niemand sprach in der Debatte
2006 von einem Lehrplan 21 mit 4753 «Kompetenzen», niemand forderte offen die
Schulpflicht ab vier Jahren und die Auflösung der Kindergärten, wie es das
Harmos-Konkordat möchte. Schon gar nicht wurde vor der Abstimmung über zwei
obligatorische Fremdsprachen in der Primarschule diskutiert. Für Kopfschütteln
sorgten vor allem die unterschiedlichen Schuljahresanfänge, im Kanton
Basel-Stadt beispielsweise im Frühling.
Solchen Wildwuchs wollte man abstellen, den interkantonalen Schulwechsel vereinfachen. Dass aber nun eine von oben diktierte Monokultur geschaffen werden soll, davon war keine Rede – und sie widerspricht fundamental dem Prinzip Vielfalt der Schweiz. Vielfalt heisst doch auch, dass man gegenseitig Unterschiede zulässt und aushält. Berset sägt an einer tragenden Säule der Schweiz, dem Föderalismus, und er tut es vorsätzlich. «Unser Föderalismus ist kein Labor», dräute er im Tages-Anzeiger. Genau deswegen formiert sich demokratischer Widerstand in den Kantonen. Was die Zentralisten, mit Bundesrat Berset an der Spitze, gern unterschlagen: Das Harmos-Konkordat, als Voraussetzung für eine verbindliche nationale Bildungspolitik, ist gescheitert. Acht Kantone haben das Projekt an der Urne abgelehnt oder sistiert.
In Wahrheit gefährden jene den Zusammenhalt im Land, die sich über Volksentscheide hinwegsetzen und demokratische Basisbewegungen per Dekret zu unterbinden versuchen. Zumal wir ein bis heute gültiges Sprachengesetz haben, das einzig vorsieht, dass die Schüler bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit eine zweite Landessprache lernen müssen. Von Frühfremdsprachen-Unterricht in der Primarschule steht dort nichts.
Berset
lernte in Hamburg Deutsch
Dass in der Diskussion über den Sinn
und Nutzen des Fremdsprachenunterrichts für Primarschüler der «nationale
Zusammenhalt» ins Zentrum rückte, ist ein taktisches Notfallmanöver. Als in den
1990er Jahren die Idee vorangetrieben wurde, den Fremdsprachenunterricht in die
Primarschule vorzuverlegen, standen pädagogische Überlegungen im Vordergrund:
Man war überzeugt, dass Kinder Sprachen früh viel einfacher lernen als später.
Das stimmt natürlich für Bilingue-Familien oder bei Umzügen in ein anderes
Sprachgebiet. Das Prinzip «Je früher, desto besser» lässt sich jedoch für die
Unterrichtssituation nicht aufrechterhalten. Zu diesem Schluss kam 2014 auch
eine Studie des Instituts für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg.
Entscheidend für den Erfolg ist die Intensität des Sprachunterrichts. Mit
anderen Worten: Das kompakte, konzentrierte Vermitteln von Französisch (oder
Deutsch oder Italienisch) auf der Oberstufe führt zu mindestens so guten
Ergebnissen. Auf der Primarstufe ist der Unterricht schlicht zu wenig intensiv,
um nachhaltig zu sein.
Raphael Berthele, Co-Autor der Studie und Direktor des Instituts, hält die gegenwärtige Diskussion über den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Fremdsprachenunterricht und Kohäsion des Landes denn auch für «überhöht». Es sei sicher Teil unseres Selbstverständnisses, dass sich zumindest jene, die das wollten, über Sprachgrenzen hinweg verstehen. «Es gehört aber auch zur Tradition, dass wir uns auf unseren Sprachterritorien in Ruhe lassen. So werden nationale Minderheiten zu lokalen Mehrheiten» (NZZ). Die Sprachenfrage wurde erst politisiert, nachdem die pädagogischen Resultate nicht überzeugt hatten. Auch internationale Studien belegen, dass die sprachliche Frühförderung keinen messbaren Erfolg zeitigt, so etwa die Arbeiten der Language Acquisition Research Group an der Universität Barcelona oder von Professorin Marianne Nikolov an der Universität Pécs in Ungarn. Nikolov wollte herausfinden, ob Schüler, die früher mit Englisch begonnen haben, bessere Kenntnisse vorweisen als solche, die später anfingen. Die Wirkung ist bestenfalls «schwach». Selbst wer schon im Kindergarten Englisch gelernt habe, könne «keinerlei Vorteile» aufweisen. Als Befürworterin eines frühen Sprachunterrichts habe sie mehr erwartet. Die Ergebnisse stellten die «Effizienz der Frühförderung» in Frage. Dieselbe Ernüchterung hat sich mittlerweile auch in der Schweiz breitgemacht – wenn auch manche Lehrer es für politisch inopportun halten, diese Zweifel in die Öffentlichkeit zu tragen.
Es gibt allerdings auch Lehrer, wie den Zürcher EVP-Bildungspolitiker Hanspeter Amstutz, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Amstutz stellt fest, dass das frühe Lernen mehrerer Fremdsprachen nicht nur nichts nütze, sondern auch schade, gerade schwächeren Schülern und Ausländerkindern. Sie seien «heillos überfordert», beherrschten schliesslich auch die Unterrichtssprache schlechter und wollten oft gar nichts mehr von Sprachen wissen.
Ironische Randnotiz: Bundesrat Berset hat gemäss eigenen Angaben erst im Studium in Hamburg richtig Deutsch gelernt. Und dies, obwohl er das zweisprachige Collège Saint-Michel in Freiburg besuchte. Mit seiner eigenen Biografie entkräftet Berset also seine Argumente.
Mehr
Wilhelm Tell für die Schule
Droht die Schweiz wirklich auseinanderzubrechen,
wenn ein Thurgauer Fünftklässler «That’s an apple» sagt, bevor er «C’est une
pomme» buchstabiert? Natürlich nicht. Die selbsternannten Hüter des «nationalen
Zusammenhalts» müssten nur kurz ins Tessin schauen, um zu erkennen, dass ihre
Befürchtungen gegenstandslos sind: Nach der Logik eines Bundesrats Berset
müsste der Südkanton längst weggedriftet und entfremdet sein von den übrigen
Landesteilen. Denn wer lernt diesseits des Gotthards in seiner Schulkarriere
überhaupt noch Italienisch? Auch kommt es niemandem in den Sinn, eine nationale
Krise auszurufen, weil niemand ausserhalb des Kantons Graubünden in der Schule
Rätoromanisch lernt.
Berset, an sich einer der klügsten Köpfe im Bundesratsgremium, hat sich gefährlich verrannt mit seinem aufgesetzten Kulturnationalismus. Seine Partei will die Schweiz möglichst rasch in die EU «integrieren» – und nun sollen gleichzeitig ein paar Lektionen Frühfranzösisch den «nationalen Zusammenhalt» sichern? Wie schief diese Argumentation ist, zeigt sich, wenn man den gleichen Ansatz auf die Frage der «cohésion européenne» überträgt. Müssten wir dann auch Frühkroatisch, Frühfinnisch, Frühgriechisch und mindestens 26 weitere Sprachen lernen, damit wir uns «besser verstehen» und nicht «belgische Verhältnisse» in Europa drohen, wie dies Berset für eine Schweiz ohne Frühfremdsprachen-Unterricht düster prophezeit?
Herfried Münkler, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, sieht im fehlenden Gründungsmythos das wichtigste Identitätsproblem der EU. Es gebe «keine gemeinsame sinnstiftende und orientierende Erzählung, weder durch den Rückgriff auf die Geschichte noch durch den auf die Literatur», wie er in der NZZ sagte. Die Schweiz hat ihre Mythen: Wilhelm Tell, die Befreiungstradition, Marignano und die Neutralität, Selbstbestimmung statt fremde Richter. Sinnigerweise ist es die Linke, ist es die Partei Bersets, die dieses Selbstverständnis mit allen Mitteln zu diffamieren («nationalkonservative Abschottungsideologie») und zu schleifen versucht.
Zu den grössten Leistungen der Schweiz gehört, dass sie sich nicht über Blut (national) und Boden (territorial) und auch nicht als Kulturnation definiert, sondern über eine gemeinsame Erzählung. Darin liegt das Wesen unserer Willensnation (siehe Interview mit Paul Widmer, Seite 17). Die verschiedenen Regionen singen die Landeshymne in ihrer jeweiligen Sprache, und es ist völlig wurscht, ob der Tell mit Vornamen Wilhelm, Guillaume oder Guglielmo heisst. Entscheidend ist die Botschaft dahinter: «Der Gehorsam im Staat hat seine Grenzen. Untertanengeist darf nie überhandnehmen» (Peter von Matt). Wenn es Alain Berset tatsächlich um den inneren Zusammenhalt des Landes ginge, müsste er mehr Geschichtsunterricht (in der jeweiligen Landessprache), mehr Wilhelm Tell für die Schule fordern.
Argumentatives
Durcheinandertal
Dem Schweizer ist ein gesunder
antiautoritärer Reflex eigen. Diesen wird Bundesrat Berset in seinem Feldzug
gegen die Kantone zu spüren bekommen – und zwar völlig zu Recht, weil sein
Motiv nicht stimmt. Das zeigt sein argumentatives Durcheinandertal: Man
beschwört den «nationalen Zusammenhalt», als ob es die Schweiz vor dem
Frühfranzösisch nicht gegeben hätte – und man will diese «cohésion nationale»
retten, indem man die Grundsäulen des schweizerischen Staates – direkte
Demokratie und Föderalismus – missachtet und nebenbei in die EU strebt, deren
zentralistischer Ansatz unvereinbar ist mit unserem politischen System.
Letztlich verfolgen der gewiefte Taktiker Berset und seine SP auch ganz profane Ziele mit ihrer hochtrabenden Sprachendebatte: Sie machen damit Stimmung in der Romandie, ihrer letzten Hochburg, die allerdings auch zu bröckeln droht – Sprachenkrieg pour la galerie. Die Linke holte dort bei den letzten Nationalratswahlen 21,1 Prozent Wähleranteil (2011: 23,2), gegenüber 18,4 Prozent in der Deutschschweiz. Die Partei mag damit ihr Profil schärfen, aber der Preis ist hoch: Denn der von der SP angezettelte und von Alain Berset auf Bundesebene gehievte Sprachenstreit kann nur Verlierer produzieren.
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