14. Mai 2016

"Wenn Argumente fürs Neue fehlen, diffamiert man das Alte"

Alain Pichard kämpft gegen den Lehrplan 21. Im Interview nimmt er Stellung.
"Ein Singbuch singt auch nicht von allein", BielBienne, 12.5. von Hans-Ueli Aebi


BIEL BIENNE: Sie gehören zu den prominentesten Kritikern des Lehrplanes (LP) 21 für die Deutschschweiz. Warum sträuben Sie sich gegen Neuerungen?

Alain Pichard: Kritik heisst nicht in erster Linie, gegen etwas zu sein, sondern vielmehr zu prüfen, ob die Gründe für Behauptungen gute Gründe sind. Und bisher wollte mir niemand erklären, weshalb plötzlich sämtliche Lerninhalte kompetenztheoretisch erfasst werden sollen. Unter den Kritikern befinden sich nicht nur Konservative sondern auch zahlreiche Gemässigte und Progressive.

Sie haben mit zahlreichen Mitautoren die Publikation «Einspruch» verfasst, kritische Gedanken zu Bologna, Harmos und Lehrplan 21. Eben ist die 4. Auflage erschienen. Überrascht?

Über 30 Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Praxis, Politik, Kultur, darunter der Autor Peter Bieri (Nachtzug nach Lissabon, Anm. d. Red.) und die Basler Ständerätin Anita Fetz haben die aktuellen Schulreformen kritisiert. Gestern wurde das zehntausendste Exemplar verkauft!

In der Westschweiz scheint der neue Lehrplan recht gut zu funktionieren ...

Der interkantonale Vergleich der PISA-Untersuchungen 2012 hat gezeigt, dass die Romands im Kanton Bern die drittletzte Position belegten. Schlechter waren nur noch die Kantone Genf und Tessin. Genf hat übrigens eine dreimal so hohe Jugendarbeitslosigkeit wie der Kanton Thurgau. Zentralisierte Schulsysteme mit Kompetenzorientierung erzielen überall die schlechteren Resultate als föderative Schulsysteme. In Frankreich tobt derzeit eine heftige Auseinandersetzung über die Kompetenzorientierung, wie sie der LP 21 vorsieht.

Angeblich wurden Schulleitungen und Lehrer in die Aus- und Überarbeitung des LP 21 einbezogen. War das wirklich so?

Der Lehrplan wurde abgeschottet von der Öffentlichkeit ausgearbeitet. Die Mitwirkenden mussten eine Schweigeerklärung unterschreiben. Wir möchten schon lange wissen, wer da mitgewirkt hat. Diese Geheimnistuerei ist auch ein Grund dafür, weshalb sich der Widerstand erst relativ spät formieren konnte.

Der Berner Bildungsdirektor Bernhard Pulver präsentierte im März die Einführung des LP 21. Ein paar Stunden mehr Deutsch und Mathematik. Pulver betonte, am «Inhalt ändert sich fast nichts» und der LP lasse den Schulen «viele Freiräume». Ist das glaubwürdig?

Gegenfrage: Warum gibt man fünf Millionen Franken für die Erarbeitung eines Lehrplans aus und noch mal soviel für die Weiterbildungskurse, wenn sich nichts ändert? Die Widersprüche sind stupend: Die Zürcher Ex-Regierungsrätin Aeppli spricht von einem Jahrhundertwerk, das die Schule entscheidend verändern wird, Professor Reusser aus Zürich von einem massiven Paradigmenwechsel und Herr Pulver meint, es ändere sich gar nichts. Alle waren sie Mitglieder der Lehrplankommission. Pulvers Rhetorik ist reine Durchsetzungsstrategie.

Früher mussten Schüler vor allem Vokabeln, Berggipfel oder Jahreszahlen auswendig lernen, was viele als sinnlos erlebten …

Wenn man keine überzeugenden Argumente fürs Neue hat, diffamiert man einfach das Alte. Der heutige Unterricht ist viel variantenreicher und innovativer als es uns die Lehrplanbefürworter glauben lassen wollen.

Vom eindimensionalen Frontalunterricht zum selbstgesteuerten Lernerlebnis – vom Schulmeister zum Lerncoach – vom oft nutzlosen Wissen zum anwendbaren Können. Der Paradigmenwechsel erscheint zweckmässig und zeitgemäss. Pulver betonte auch, die Kompetenzorientierung sei «nichts Neues».

Herr Pulver spricht von jenen Kompetenzen, wie sie im alten Lehrplan schon vorhanden waren. In Tat und Wahrheit aber geht es im LP 21 um Kompetenzen, wie sie im Weissbuch der Konferenz der Erziehungsdirektoren 2004 formuliert sind. Da geht es um Anwendung, Vergleichbarkeit und Messbarkeit. Im Prinzip machen wir aus der Volksschule, wo es um Bildung geht, eine Berufsschule, wo es um Ausbildung geht.

Der Lehrplan umfasst 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen. Was ist an der Schülerbeurteilung aus Ihrer Sicht problematisch?

Soziale Kompetenzen wie «Umgang mit Vielfalt» oder «ist in der Lage, Gefühle situationsgerecht auszudrücken» sollen auf einer Skala von 1 bis 10 beurteilt werden. Wie zum Geier soll ein Lehrer so etwas «messen»? Lars Burgunder, ein junger mutiger Lehrer mit Bieler Wurzeln, brachte diesen Blödsinn an die Öffentlichkeit, worauf die Erziehungsdirektion einen Rückzieher machte.

Früher stand im Zeugnis zum Beispiel: Deutsch: 5, Mathematik: 4,5, Naturkunde: 5,5. Betragen: befriedigend. Mehr erfuhr man nicht über den Schüler. Es ist doch nützlich, wenn Leser eines Zeugnisses wissen, mit wem sie es zu tun haben?

Wie soll man «Höflichkeit» auf einer Skala von 1 bis 10 beurteilen? Ist ein Schüler unhöflich, weil er mal einen schlechten Tag hat oder mit dem Lehrer grundsätzlich nicht so gut auskommt? Höflichkeit oder Fleiss sind Momentaufnahmen, die sich immer wieder ändern, das sind Fragen des Charakters. Gibt es diesbezüglich Probleme mit Schülern, dann sprechen wir diese an und handeln wo nötig. Aber das gehört nicht in einen Beurteilungsbericht. Die meisten Lehrmeister lassen ihre Lehrstellenanwärter schnuppern. Das ist zuverlässiger als ein Kreuzchen bei der Zahl «5» unter der Rubrik «Höflichkeit».

Kein gutes Haar lassen Kritiker an der «Outputoptimierung» und «Testkultur». Es ist doch gut zu wissen, was die Schüler zu leisten im Stande sind?

Tests müssen ständig weiterentwickelt werden. Sonst stellen sich Lehrer und Schüler darauf ein. PISA hat gezeigt, wohin das führt: Rankings, Hysterie und Aktionismus. Die Gefahr besteht, dass die Lehrkräfte künftig vor allem für die Tests arbeiten.

Sehen Sie beim LP 21 auch positive Elemente?

Es war eine gute Idee, Schulstrukturen und Inhalte über die Kantonsgrenzen hinaus zu harmonisieren. Schade, dass hohe Bildungspolitiker dies zum Freipass für Gleichschaltung, Steuerungs- und Kontrollwahn nutzen wollen.

Die IG für eine Starke Volksschule im Kanton Bern hat die Initiative «Lehrpläne vors Volk» lanciert. Bringt das etwas?

Man wollte dieses Reformwerk ohne den Einbezug der Direktbetroffenen, also der Eltern und Lehrkräfte von oben herab verfügen. So entstand – reichlich spät zwar – die notwendige Diskussion, der die Befürworter des LP 21 ständig ausweichen.

Die Arbeiten sind weit fortgeschritten, im Kanton Bern soll der LP 21 ab August 2018 eingeführt werden. Wie ändert sich der Schulalltag für die Schüler?

Wenn der Lehrplan mit all seinen Facetten so umgesetzt wird, führt das zu einem monotonen, mit Arbeitsblättern gesteuertem Unterricht. Kompetenzstufe erreicht, Kleber drauf und ab zum nächsten Kompetenzziel. Und die schwächeren Schüler kommen unter die Räder.

Was ändert sich für die Lehrer?

Guter Unterricht ist angewiesen auf innovative Lehrkräfte, die begeistern können. Dazu brauchen sie Freiheiten beim Einsatz ihrer Lehrmittel und kein Kontroll- und Steuerungsmonster, wie es der LP 21 darstellt. Es sind die Lehrer und ihre Schüler, welche Lerninhalte mit Leben füllen, ein Singbuch singt schliesslich auch nicht von allein!



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