Niemand wird behaupten,
das Schweizer Bildungssystem sei nicht Teil der Erfolgsgeschichte Schweiz. Im
Gegenteil: Die auf eine solide Allgemeinbildung ausgerichtete Volksschule
bereitet heute bestens sowohl für eine akademische Laufbahn als auch für eine
auf der Berufslehre aufbauende Karriere vor. Auf das Leben eben. Doch
unterdessen hat eine nie gesehene Reformwelle die Schulen in der Schweiz
erfasst. Eine, die das Potenzial hat, die erfolgreiche föderalistische
Bildungslandschaft in der Schweiz zu zerstören. Die Schweiz setzt mit den
vielen Schulreformen ihr hohes Ausbildungsniveau, das auf einer
Allgemeinbildung in der Volksschule und auf einem dualen Berufsbildungssystem
aufbaut, aufs Spiel – und damit letztlich auch den wirtschaftlichen Wohlstand
und den Lebensstandard.
Die Schweiz darf ihr Bildungssystem nicht zerstören, Basler Zeitung, 30.4. von Thomas Dähler
Ob
Technokraten oder Experten: Die Garde der Reformer rechtfertigt ihren tief
greifenden Umbau der Volksschule heute stets mit der Neuordnung der Bildung in
der Bundesverfassung, die das Volk 2006 mit einem Ja-Anteil von 85 Prozent an
der Urne angenommen hat. Verankert wurde damals in der Volksabstimmung die
Pflicht der Kantone zur Schulharmonisierung «im Bereich des
Schuleintrittsalters und der Schulpflicht, der Dauer und Ziele der
Bildungsstufen und von deren Übergängen sowie der Anerkennung von Abschlüssen»,
wie es wörtlich in der Verfassung heisst. Schaffen dies die Kantone nicht, hat
der Bund die Kompetenz, einzugreifen.
Doch
niemand ahnte damals, dass dieser zaghafte Versuch zu mehr Gemeinsamkeiten in
den Schulen der einzelnen Kantone dazu missbraucht wird, tief greifenden
Reformen den Stempel einer demokratischen Legitimität aufzudrücken. Der
Deutschschweizer Lehrplan 21 ist dabei nur einer der Mosaiksteine der tief
greifenden «Reformitis», wenn auch ein bedeutender.
Die
Schule als Unternehmen
Angestossen
wurde der Umbau weg von traditionellen humanistischen Bildungsgrundsätzen zu
einer utilitaristischen Instrumentalisierung der Ausbildung bereits in den
90er-Jahren, als der Zürcher Erziehungsdirektor Ernst Buschor in seinem Kanton
der Schulverwaltung das New Public Management aufdrückte, die Schulen zu
Corporate Identities erklärte und dem offenbar nützlicheren Frühenglisch
gegenüber der zweiten Landessprache den Vorzug gab. Der Lehrplan 21 atmet
diesen damals in Zürich verankerten Geist. Er versteht die Lehrkräfte als
Anbieter von Dienstleistungen und die Eltern und Schüler als Kunden – eine
Schule, die wie die Wirtschaft Angebot und Nachfrage zur Maxime erhebt.
Im
Zentrum des Lehrplans 21 stehen die Kompetenzen und das selbstgesteuerte
Lernen. Der Fokus liegt auf Prüfungen und Tests und nicht mehr auf Wissen und
Schulstoff. Der frühere SBB-Chef Benedikt Weibel hat die Abkehr von der Maxime
«Wissen ist Macht» schon vor einiger Zeit als eine «Bildungspolitik auf
Abwegen» kritisiert. Der Lehrplan 21 orientiert sich an Kompetenzen, die über
nützliches Wissen und anwendbare Fähigkeiten erworben werden und in
einheitlichen Tests prüf- und messbar sind. Auf der Strecke bleibt dabei
letztlich der Erziehungsauftrag, den die Schule hat. Prägende
Lehrerpersönlichkeiten, die um das Wohl ihrer Schüler besorgt sind und ihre
Entwicklung fördern, braucht es dafür keine mehr. Sie mutieren zu Kontrolleuren
von Schülern, die ihren Kompetenzenstand selbstständig entwickeln, analysieren
und perfektionieren, damit sie auf den Testformularen die richtigen Kreuze
anbringen.
Doch
eine Schule ist kein Unternehmen. Der Widerstand gegen die Vielzahl von
Reformen, welche die Schulen ganz offensichtlich nicht besser machen, wächst.
Die Schulharmonisierung gerät damit zum Flop. Dem Harmos-Konkordat sind
zahlreiche Kantone gar nicht erst beigetreten. Auch das Sprachenkonzept mit
zwei Frühfremdsprachen in der Primarschule bröckelt. Und gegen den Lehrplan 21
sind in zahlreichen der 21 Kantone Volksinitiativen eingereicht worden. Selbst
Kantone, die den Lehrplan 21 übernehmen, unterwandern ihn: In Appenzell etwa
hat sich die Landsgemeinde hinter den Lehrplan 21 gestellt, nachdem die
Regierung erklärt hat, sie werde ihn an die lokalen Bedürfnisse anpassen und
auf das selbstgesteuerte Lernen – die sogenannten Lernlandschaften – ganz
verzichten. Es ist dies ein Umgang mit dem Lehrplan 21, der ganz und gar nicht im
Sinne seiner Erfinder sein dürfte. Glücklicherweise.
Unklarer
Kompetenzbegriff
Bereits
die Entstehungsgeschichte des Lehrplans 21 hat Aussenstehende misstrauisch
gemacht. Lehrkräften und Journalisten wurde anfänglich der Zugang zu den
Inhalten des Lehrplans 21 verweigert. Das Top-down-Projekt sollte
offensichtlich ohne kritische Begleitung über die Bühne gehen. Erst bei der
Veröffentlichung des Entwurfs konnte Kritik angebracht werden. Das Resultat war
eine Vielzahl von Korrekturwünschen bei der Vernehmlassung, die schliesslich
zum Flickwerk führte, das die Deutschschweizer Erziehungsdirektoren
verabschiedeten. Dass es sich um ein Flickwerk handelt, sieht man ihm an: Er
behandelt die Fächer unterschiedlich. Der Kompetenzbegriff ist unklar. Hinter
ihm verbirgt sich eine Mischung aus Wissen, Lernzielen und eigentlichen
Kompetenzen.
«Schülerinnen
und Schüler können Prozentrechnungen mit dem Rechner ausführen» hat eine völlig
andere Dimension als etwa «Schülerinnen und Schüler können Informationen und
Informationsquellen zum Boden als Ressource einordnen, Schlussfolgerungen für
eine nachhaltige Nutzung ziehen und diese beurteilen». Während in einzelnen
Fächern die Inhalte ziemlich eng gefasst sind, hängen in anderen die Inhalte
völlig von der Funktion ab, mit welcher die Kompetenz erworben werden soll. So
ist etwa im Sammelfach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» der Holocaust nur gerade
als eines von mehreren Ereignissen im «Zeitalter der Extreme» aufgeführt: «Die
Schülerinnen und Schüler können ausgewählte Phänomene der Geschichte des 20.
und 21. Jahrhunderts analysieren und deren Relevanz für heute erklären», heisst
es. Es geht also nicht um die sachliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust,
denn das Ereignis ist nur eines von mehreren ausgewählten Phänomenen, mit denen
die Kompetenz erworben werden kann, dieses historisch einzuordnen.
Peter
Bonati, den ich einst an der Abteilung für das Höhere Lehramt der Universität
Bern als Dozenten kennen- und schätzen gelernt habe, hält genau dieses
Ungleichgewicht zwischen Inhalten und Kompetenzen für die Schwäche des
Lehrplans 21. Bonati meint, wer als junger Lehrer wenig Erfahrung habe, werde
Mühe damit haben, die Reihenfolge der Unterrichtsinhalte zu finden, die er
braucht, um die Kompetenzen zu erreichen.
Handlanger
der Bildungsexperten
Mit
dem Lehrplan 21 und den vielen begleitenden Reformen werden damit nicht nur,
wie vorgegeben, die Schulsysteme harmonisiert. Vielmehr geht es darum, die
Schule zu einer Testfabrik umzugestalten, in der die Lehrkräfte bloss noch
kontrollieren, ob die Schülerinnen und Schüler für die vorgegebenen Ziele
arbeiten. Von ihrer pädagogischen Funktion werden die Lehrkräfte damit
weitgehend entlastet, ebenso vom Auftrag, die Schülerinnen und Schüler zu einem
kritischen Denken zu animieren. Sie sollen zu Handlangern der Bildungsexperten
werden.
Eine
demokratische Auseinandersetzung über die Funktionen, welche der Volksschule in
unserer Gesellschaft zukommen, ist dabei nicht vorgesehen. Wären da nicht
Initianten, die Unterschriften gesammelt haben, würde die Volksschule gar
völlig am Volk vorbei umgestaltet. So weit soll es aber nicht kommen: Das
erfolgreiche Schweizer Bildungssystem darf nicht klammheimlich beerdigt werden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen