18. April 2015

Konstante Bezugspersonen für ADHS-Kinder

Jürg Forster leitet den Schulpsychologischen Dienst der Stadt Zürich. Im Interview äussert er sich über die Integration von ADHS-Kindern an der Volksschule.





Spezielle Betreuung für ADHS-Kinder ist nicht immer möglich, Bild: Martin/Le Figaro/Laif

"Ein wichtiges Problem sind die vielen Bezugspersonen an Schulen", Tages Anzeiger, 16.4. von Felix Straumann


Die Schule für Offenes Lernen (SOL) in Liestal unterrichtet hyperaktive Kinder, ohne dass diese Medikamente benötigen – selbst wenn sie davor Ritalin einnahmen. Könnte das nicht ein Vorbild für die Volksschule sein?
Das ist schwierig zu sagen, weil ich diese Schule nicht kenne. Grundsätzlich ist es aber nicht Sache der Schule, zu entscheiden, was die richtige Behandlung für ein Kind ist. Das ist die Aufgabe der Eltern und der Kinder zusammen mit Fachleuten. Es besteht die Gefahr, dass eine Schule mit einer so klaren Haltung die Eltern und Kinder unter Druck setzt, eine Behandlung abzubrechen.

Die Lehrer verstehen ihren Ansatz nicht als Therapie. Sie wollen so unterrichten, dass Kinder trotz der Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung lernen können, aber ohne Medikamente. 
Natürlich braucht nicht jedes Kind mit ADHS ein Medikament. Bei leichteren Formen sprechen die Betroffenen auch auf pädagogische und psychologische Unterstützung gut an. Kinder mit schwereren Formen von ADHS brauchen ­jedoch meist zusätzlich eine medikamentöse Behandlung.

An der Schule in Liestal sind die Klassengrössen viel kleiner, dafür gibt es keine Einzelförderung etwa durch Heilpädagogen. Insgesamt braucht dies offenbar nicht mehr Ressourcen für den Unterricht. Können Sie das nachvollziehen?
Wenn dem tatsächlich so sein sollte, ­machen sie an dieser Schule vielleicht wirklich etwas besser. Ich denke, dass die ­öffentlichen Schulen ihre Ressourcen noch optimieren können. Vor allem sollte berücksichtigt werden, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen möglichst wenige und konstante Bezugspersonen brauchen. Im Kanton Zürich nimmt der Schulversuch «Fokus starke Lernbeziehungen» dieses Thema auf.

Ist die Volksschule überhaupt in der Lage, Kinder mit ADHS adäquat zu unterrichten?
Im Rahmen der öffentlichen Schule ist vieles möglich. Das hängt zu einem grossen Teil von den einzelnen Lehrerinnen und Lehrern ab. Grundsätzlich hilft eine gute Pädagogik auch den ADHS-Betroffenen. Man muss den Kindern viele unterstützende Rückmeldungen geben und soll sie nicht auf ihre Defizite reduzieren, sondern ihre Stärken fördern. Wichtig sind klare Strukturen im Tagesablauf und das Vereinbaren von Regeln, die dann auch eingehalten werden.

Wie steht es mit Unterricht ohne Noten und unterschiedlichen Lernzielen für jedes einzelne Kind? 
Auch das ist an der Volksschule möglich. Die Lehrpersonen sind dazu aufgefordert, Kindern mit besonderen Bedürfnissen einen individualisierten Unterricht anzubieten. In Absprache mit Eltern können Lernziele angepasst werden. Auch Noten lassen sich in einzelnen Fächern aussetzen, wenn ein Kind eine Entlastung vom Notendruck braucht.

Dann hängt letztlich alles an den einzelnen Lehrpersonen?
Natürlich hängt sehr vieles auch von den Eltern ab. Sie sind auch in schwierigen Zeiten die Hauptbezugspersonen der Kinder.

Ist aus Ihrer Sicht also eigentlich alles bestens an der Volksschule in Sachen ADHS? 
Nein. Ein wichtiges Problem für die Kinder sind die vielen Bezugspersonen an der Schule. Das ist in den letzten 20 Jahren entstanden. Die Pensen der Lehrpersonen sind in dieser Zeit deutlich kleiner geworden. Gleichzeitig sind an der Schule immer mehr Spezialisten hinzugekommen, was die Koordination der Förderung schwierig macht. Das kommt Kindern mit ADHS nicht entgegen, im Gegenteil.

Ein unlängst veröffentlichter Bericht der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zeigt, dass bei ADHS-Kindern vor allem die Schule zu einer starken Belastung führt. Das restliche Lebens­umfeld spielt eher eine untergeordnete Rolle. Ist das nicht ein Zeichen, dass sich die Schule mehr verändern müsste? 
Nein, das hat damit zu tun, dass die Schule grundsätzlich andere Anforderungen stellt als die Freizeit. Zu Hause kann ein Kind unterbrechen und etwas anderes machen, wenn es sich nicht mehr konzentrieren kann. In der Schule geht das nicht. Ein Kind muss sich in ­einer Gruppe trotz Ablenkung auf den Lernstoff konzentrieren können. Die Aufmerksamkeit unter solchen Umständen einen ganzen Schultag lang aufrechtzuerhalten, ist für Kinder mit ADHS eine grosse Herausforderung.

Aber die Anforderungen der Schule und die Unterrichtsmethoden könnten bei ADHS-Kindern so angepasst werden, dass es ihnen möglich wird, sich trotzdem zu entfalten. Bei der Legasthenie akzeptiert man beispielsweise inzwischen auch Defizite. 
Das ist auch möglich. Gewisse Lehrpersonen setzen das sicher besser um als andere. Etwa, dass Kinder zwischendurch rausgehen und sich bewegen dürfen, wenn sie zappelig werden. Oder sich in einer speziell eingerichteten Ecke im Schulzimmer mit etwas anderem beschäftigen können. Es gibt viele Möglichkeiten, die zum Teil zu wenig ausgeschöpft werden.

Das hängt wohl auch damit zusammen, dass die Lehrpersonen heute häufig am Anschlag sind und gar nicht die entsprechende Kapazität haben. 
Das ist sicher so. Wenn Lehrerinnen und Lehrer selber stark unter Druck sind, können sie weniger auf die einzelnen Kinder eingehen.


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