Die anfängliche Euphorie ist verflogen, Bild: deallx.de
Zur Sprache kommen, NZZaS, 24.8. von Manfred Papst
Als «Haus des Seins» hat Martin Heidegger die Sprache bezeichnet.
Sie ist ein seltsames Paradox. Wir tragen sie in uns, aber wir wohnen auch in
ihr. Sie macht uns erst zu Menschen; ohne sie gibt es kein höheres Denken. Sie
ist immer schon da, wir aber sind erst unterwegs zu ihr. Wir teilen sie.
Niemals gehört sie jemandem allein - und doch muss jeder Einzelne ihr Sorge tragen,
damit sie nicht verkommt.
In Ludwig Wittgensteins
«Tractatus logico-philosophicus» lesen wir den Satz «Die Grenzen meiner Sprache
bedeuten die Grenzen meiner Welt». Wir können ihn auf die Sprache an sich
beziehen: Was sich sagen lässt, das lässt sich klar sagen. Der Rest ist
Schweigen. Das Diktum lässt sich aber auch auf die Vielfalt der Sprachen
anwenden: Jede hat ihre eigenen Farben, Klänge, Schattierungen. Jede eröffnet
uns neue Perspektiven auf die Welt. Wer sich in mehreren Sprachen auskennt, dessen
«Haus des Seins» hat viele Wohnungen.
Es sind uns indes auch
Grenzen gesetzt. Wir können nicht beliebig viele Sprachen lernen (und
«beherrschen», wie wir so unbedacht sagen, schon gleich gar nicht).Das gilt
selbst für ein Sprachgenie wie Wilhelm von Humboldt. Dem preussischen Gelehrten
und Staatsmann waren neben seiner Muttersprache nicht nur Griechisch und
Latein, Französisch und Englisch vertraut, sondern auch Italienisch, Spanisch,
Baskisch, Ungarisch, Tschechisch, Litauisch. Darüber hinaus befasste er sich
als vergleichender Philologe mit dem Altägyptischen, dem Chinesischen, dem
Japanischen, dem Sanskrit und vielen weiteren Sprachen. Seine Korrespondenz mit
dem französischen Sinologen Jean-Pierre Abel-Rémusat zählt bis heute zum
Erhellendsten, was man über die chinesische Sprache lesen kann. Rund dreissig
der 6500 bis 7000 Sprachen, die es gemäss dem Max-Planck-Institut für
evolutionäre Anthropologie in Leipzig weltweit gibt, soll er gekannt haben. Es
grenzt an ein Wunder, dass es im Kopf dieses sonderbaren Menschen nicht zu
einer babylonischen Sprachverwirrung kam.
Eine solche müssen wir
Normalsterbliche schon bei weit geringerem Verkehrsaufkommen fürchten. Wir
müssen mit unseren geistigen Kräften haushalten. Deshalb beschäftigt uns die
Frage, was wir wann am besten lernen. Sie geht uns als Lernende und Lehrende
an, vor allem aber als Eltern. Denn schliesslich wollen wir das Beste für
unsere Kinder. Sprachen eröffnen ihnen nicht nur neue Blicke auf die Welt,
sondern sind auch ihrem beruflichen Fortkommen nützlich, in der demografisch
wie in ihrem Selbstverständnis mehrsprachigen Schweiz ganz besonders.
Dabei hat sich in den
letzten Jahren der Grundsatz «Je früher, desto besser» durchgesetzt - mit der
Folge, dass heute in 20 von 26 Schweizer Kantonen die erste Fremdsprache
spätestens ab dem dritten, die zweite spätestens ab dem fünften Schuljahr
unterrichtet wird. 14 Kantone beginnen mit Frühenglisch, die übrigen mit einer
zweiten Landessprache. Ziel ist es, dass bis zum Ende der obligatorischen
Schulzeit in beiden Fremdsprachen eine vergleichbare Kompetenz erreicht wird.
Das Modell ist
umstritten. Sowohl von politischen Parteien wie von Lehrern und Eltern wird es
kritisiert. Oft wird dabei geltend gemacht, dass ein Teil der Kinder
überfordert werde und ein anderer sich langweile. Das Problem liegt jedoch
anderswo. Die Prämisse «Je früher, desto besser» ist nicht grundsätzlich
falsch. Tatsächlich lernen Kinder manches leichter als Halbwüchsige oder
Erwachsene. Man sieht das an Kindern, die zweisprachig aufwachsen und keinerlei
Mühe bekunden, sich in der Sprache der Mutter wie jener des Vaters zu bewegen.
Sie sind jedoch in einer ganz anderen Situation als Kinder, die im
Klassenverband bloss zwei Wochenstunden Frühenglisch oder Frühfranzösisch
verabreicht bekommen. Sie tauchen in ihrem Alltag in die Sprache ein. Immersion
heisst das Zauberwort. Sie schwimmen in einem Wasser, in das gewöhnliche
Schulkinder nur ihre Zehe tauchen. Aber auch zweisprachig aufwachsende Kinder
lernen die Sprache nicht einfach so. Wer sich eine fremde Sprache wirklich
aneignen und nicht nur ein bisschen in ihr parlieren will, der muss sie von
ihrer Struktur her verstehen. Dazu braucht er ein analytisches Instrumentarium.
Eine exakte Kenntnis der Muttersprache ist unabdingbar. Auch das Lateinische
mit seiner kristallinen Morphologie kann hilfreich sein.
Der
Fremdsprachenunterricht an den Schweizer Primarschulen wurde in den ersten
Kantonen in den 1970er Jahren, in den letzten in den 1990er Jahren eingeführt.
Inzwischen ist die anfängliche Euphorie verflogen, und etliche Studien stellen
den Nutzen der Übung in Frage. Sie machen geltend, dass ältere Lernende
effizienter lernen - eben weil sie schon eine «innere Grammatik» mitbringen.
Wer will, dass seine
Kinder früh und gründlich mehrere Sprachen lernen, der muss sie entweder selbst
mehrsprachig erziehen oder sie an eine mehrsprachige Schule mit den
entsprechenden «Native Speakers» schicken. Und auch da bekommt der Nachwuchs
nichts einfach so geschenkt. Sprachen zu lernen, kann ein Vergnügen und ein
Abenteuer sein, es bedeutet aber immer auch Arbeit, und zwar einsame. Lesen
verlangt Abgeschiedenheit. Über vieles kann man sich im geselligen Kreis, in
der Lerngruppe, im Klassenverband verständigen. Aber nicht über alles. Es
sollte uns zu denken geben, was ausgerechnet das Sprachgenie Humboldt als
Grundpfeiler jeder humanistischen Bildung bezeichnet hat: Freiheit und
Einsamkeit.
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