Streit ums Schulfranzösisch, Schweiz am Sonntag, 20.4. von Pascal Büsser
Politik und Experten streiten sich um den Unterricht von
Fremdsprachen in der Primarschule. Die «Schweiz am Sonntag» hat sich im
Linthgebiet umgehört.
Und sich in eine 5. Klasse in Kaltbrunn gesetzt.
Und sich in eine 5. Klasse in Kaltbrunn gesetzt.
Von Pascal
Büsser
«On commence
avec un petit jeux.» Die Ankündigung von Lehrerin
Desirée Steiner ist kein Zufall. Spielerisches Lernen wird heute im
Fremdsprachenunterricht an der Primarschule gross geschrieben. Auch bei
Steiners 5. Klasse in Kaltbrunn.
Auf einen
Zettel mit drei mal drei Feldern sollen die Schüler neun Ge- sichtsteile oder
Kleidungsstücke schreiben. «Neuf choses différentes.» Die Anweisungen gibt die
Lehrerin auf Französisch. Nur zwischendurch wiederholt sie komplizierte
Begriffe auf Deutsch. Die Schüler scheinen ihr gut folgen zu können – zumindest
die meisten.
In der Hand
hält die Lehrerin kleine Zettel mit Stichwörtern, um Schülern auf die Sprünge
zu helfen, denen die bereits gelernten Begriffe partout nicht mehr einfallen
wollen. Hinten im Schulzimmer hängt zudem eine Wäscheleine mit Kleidungsstücken,
die auf Französisch angeschrieben sind.
Um den Fremdsprachenunterricht an der Primarschule ist ein landesweiter Streit entbrannt.
Vorstösse oder Volksinitiativen in sieben Kantonen (BL, GR, LU, NW, SH, SO, TG)
wollen die zweite Fremdsprache wieder aus der Primarschule kippen. Im Kanton
St. Gallen, wo seit 2008 zwei Fremdsprachen in der Primarschule unterrichtet
werden, hat die SVP in der Februarsession eine entsprechende Interpellation
eingereicht. Diese fordert, dass in der Primarschule nur noch Englisch gelehrt
wird.
Zudem haben
über 70 Kantonsräte in einem parteiübergreifenden Postulat die St. Galler
Regierung beauftragt, eine Bilanz zu den Erfahrungen mit zwei Fremdsprachen auf
der Primarstufe zu liefern. Und auf dieser Grundlage zu prüfen, ob das
Französisch auf die Oberstufe verschoben werden soll.
Die Schüler
seien mit zwei Fremdsprachen überfordert, lautet die Begründung. Bei Kritikern
in anderen Kantonen herrscht der gleiche Tenor. Ein Drittel der Primarschüler
komme bei zwei Fremdsprachen nicht mit, sagte etwa Annamarie Bürkli,
Präsidentin des Luzerner Lehrerverbands, gegenüber «10 vor 10».
Fragt man bei den Schulleitern der Region nach, ist das Echo gemischt. Für Thomas Rüegg,
Schulpräsident von Rapperswil-Jona, ist Bürklis Aussage «zu pauschal und vor
allem auch sehr stark auf die Fremdsprachenthematik fokussiert beziehungsweise
reduziert». Auch Thomas Pedrazzoli von der Schule Schmerikon hält die Aussage
für «politisch überspitzt». Für Schmerikon könne er solche Zahlen nicht
bestätigen.
Auch in
Schänis, Kaltbrunn und Uznach hält man diese Zahlen für zu hoch angesetzt.
Schwierigkeiten gebe es durchaus. «Bei jenen, die generell Mühe haben, entsteht
zusätzlicher Förderbedarf», sagt etwa Mario Grob von der Schule Uznach. Dieser
Bedarf an zusätzlichen Ressourcen sei bei der Einführung von Frühenglisch wohl
unterschätzt worden. Die Situation sei für die Schule je- doch zu bewältigen.
Bei
Schülern, denen ohnehin alles leicht falle, wirke Frühenglisch und Französisch
sogar lernanimierend. Weil Förderprogramme ganzheitlich liefen, sei die Zahl
der Schüler mit Mühe nur schwer zu quantifizieren, so Grob.
Kinder, Die dem
normalen Unterricht nicht folgen können, bekommen so genannte individuelle
Lernziele. Allerdings wird dieses Mittel nur bei wenigen Einzelfällen
angewandt, wie eine Umfrage bei den Schulen der Region zeigt. «Wir gehen damit
extrem zurückhaltend um, um nicht zu früh Weichen zu stellen», sagt Thomas
Pedrazzoli stellvertretend für alle Schulleiter.
Schwierigkeiten haben aber weit mehr Schüler. «Nicht nur schwächere, auch mittelgute haben
teils Mühe», sagt beispielsweise Richard Blöchlinger, Schulleiter in
Eschenbach. Problematisch ist für ihn zudem, dass Englisch und Französisch
benotet werden und in die Bewertung einfliessen, ob es jemand in die Sekundar-
oder die Realschule schafft.
«Bei der Einführung stand die Idee
im Vordergrund, in der Primar die Freude an Fremdsprachen zu wecken», so
Blöchlinger. Mit den Noten sei der Leistungsdruck automatisch gestiegen. Für
Blöchlinger wäre es deshalb eine Überlegung wert, nur noch eine Fremdsprache zu
benoten. Diese Idee hat der Präsident der Deutschschweizer
Erziehungsdirektorenkonferenz, Christian Amsler, unlängst vorgebracht. Der
nationale Lehrerverband for- dert gar, dass die zweite Fremdsprache in der
Primar nicht mehr obligatorisch ist – sondern zum Wahlpflichtfach wird.
Eine
Entschlackung des Stundenplans halten alle Schulleiter für zumindest prüfenswert.
«Der Stundenplan eines Fünftklässlers ist mit 30 Unterrichtslektionen voll,
meiner Meinung nach zu voll», sagt etwa Ruedi Eicher, Schulleiter in Schänis.
«Ich erachte die früheren 28 Lektionen als ideal.» Ob bei den Fremdsprachen
gespart werden soll, darüber gehen die Meinungen auseinander.
«Bingo», ruft Pirmin freudig durchs Kaltbrunner Klassenzimmer. «Déjà?», fragt Lehrerin
Desirée Steiner skeptisch. Zur Kontrolle muss Pirmin die drei Wörter in einer
Reihe aufsagen: «Le t-shirt, les cheveux, la bouche.» Kurz darauf hat auch
Andreas eine Reihe zusammen. Er zählt auf: «La joue, le nez, äh, le Auge.» – Gelächter
im Klassenzimmer. – «L’oeil», hilft die Lehrerin. «Hast du geschrieben oder gezeichnet?»,
fragt sie, ausnahmsweise auf Deutsch. Andreas: «Geschrieben, aso die Mehrzahl,
les yeux.» Verzwickt, dieses Französisch.
Doch
verpackt in Bingo scheint die Fremdsprache den Kaltbrunner Fünftklässlern Spass
zu machen. «Nochmals», rufen sie, als die Lehrerin das Ende des Spiels
verkündet.
«Die Lehrmittel erlauben heute explizit einen spielerischen Zugang zur Sprache», sagt ein
Mann, der es wissen muss. Marcel Gübeli, selbst Vater von zwei Pri-
marschülern, ist Direktor der Interkan- tonalen Lehrmittelzentrale (ILZ) in Rapperswil-Jona.
Im Gegensatz zu früher soll der Sprachunterricht nicht mehr defizitorientiert
sein, wie Gübeli das nennt. «Wenn ich in der Schule etwas nicht richtig gesagt
habe, hiess es: ‘Falsch’. Heute sollen Schüler zum Reden motiviert werden, auch
wenn sie dabei Fehler machen.
Grammatik büffeln und endlose
Wortlisten lernen sollte in der Primarschule nicht im Vordergrund stehen. «Doch
die Didaktik im Lehrmittel und der Alltag im Unterricht können weit auseinanderliegen»,
weiss Gübeli.
Denn eine spielerische Sprachvermittlung
stellt an die Lehrkraft grosse Ansprüche. Der Weiterbildungsbedarf, den ein
neues Fach mit sich bringt, werde oft unterschätzt, meint Gübeli. «Wenn man
Weiterbildung wirklich gut machen will, kostet das Millionen.» Und viel Zeit.
Interessanterweise gibt es in Französisch, und nicht im jüngeren Fach Englisch,
einen Rückstand bei der Lehrerausbildung, wie der Kanton in einem Bericht von
2013 festhält.
Unabhängig der Lehrmittel bleibt
die Lehrperson ein entscheidender Erfolgsfaktor im Unterricht. «Sie muss in der
Lage sein, Freude an einem Fach zu vermitteln, sonst wirds mühsam.» Gübeli ist
sich indes bewusst: «Nicht jedes Lehrmittel begeistert jeden Lehrer.»
Eine Nationalfonds-Studie von 2010 hat bei den Englischkenntnissen von Schülern am Ende der
6. Klasse grosse Unterschiede zutage gefördert. «Neben den Voraussetzungen, welche die Schülerinnen und Schüler mitbringen, sind es mit grosser Wahrscheinlichkeit vor allem Cha- rakteristiken der Unterrichtsgestaltung, die dafür verantwortlich sind», folgert die Autorin. Sprich: Das Können der Lehrkraft ist entscheidend.
6. Klasse grosse Unterschiede zutage gefördert. «Neben den Voraussetzungen, welche die Schülerinnen und Schüler mitbringen, sind es mit grosser Wahrscheinlichkeit vor allem Cha- rakteristiken der Unterrichtsgestaltung, die dafür verantwortlich sind», folgert die Autorin. Sprich: Das Können der Lehrkraft ist entscheidend.
Die Studie untersuchte auch, wie
sich Frühenglisch auf den Erwerb von Französisch in der 5. Klasse auswirkt.
Ergebnis: «Bereits vorhandene Sprachkenntnisse sind beim Lernen der zweiten
Fremdsprache Französisch nützlich.» Eine Beobachtung, die mehrere Schulleiter
aus der Region teilen. Auf Basis einer weiteren Nationalfondsstudie von 2009
folgert die Erziehungsdirektorenkonfe- renz: Die grosse Mehrheit der Schüler
sei mit zwei Fremdsprachen nicht überfordert – und habe Spass am Unterricht.
Bei Urs Kalberer sorgen diese Aussagen für Kopfschütteln. Der Sekundarlehrer in
Landquart ist ein vehementer Kritiker der aktuellen Strategie der
Erziehungsdirektorenkonferenz mit zwei Fremdspra- chen auf der Primarstufe. Für
ihn ist die Frage nach der Überforderung der Schüler falsch gestellt. Die
entscheidende müsse lauten: Was bringts? Seine Antwort: Wenig bis nichts. «Was
Primarschüler lernen, holen Sekundarschüler innert weniger Monate auf», sagt
Kalberer. Weil ältere Schüler viel effizientere Lernstrategien anwenden
könnten.
Kalberer
stützt sich bei dieser Aussage auf eine eigene Diplomarbeit an der Universität
Manchester von 2007, für die er bestehende Studien zu frühem
Fremdsprachenlernen zusammengefasst hat. Sein Schluss: «Der Entscheid zur
Einführung von Frühfremdsprachen ist ein Experiment, das sich nicht auf
empirisch erhärtete Erfolgszahlen stützen kann. Im Gegenteil, die meisten Studien
sind kritisch.» Die Erziehungsdirektorenkonferenz stellt sich derweil auf den
Standpunkt, dass es noch zu früh sei für eine abschliessende Bilanz.
Die Rahmenbedingungen dürften ein zentrales Teil im Puzzle sein. Das Argument, dass man
Fremdsprachen «je früher desto besser» lerne, ziehe nicht grundsätzlich, meint
Urs Kalberer. Um den Vorteil des quasi natürlichen Sprachenlernens auszunutzen,
müsse man viel länger der Fremdsprache ausgesetzt sein als zwei bis drei
Stunden pro Woche.
Unterstützung
erhält Kalberer diesbezüglich vom früheren Kinderarzt und
Buchautor Remo Largo aus Uetliburg. Die Diskussion, ob Frühenglisch oder
Frühfranzösisch oder beides unterrichtet werden solle, führe am Kern des Problems
vorbei. «In zwei bis drei Stunden pro Woche können Kinder keine Fremdsprache lernen,
das ist pädagogisch unvernünftig», meint Largo. Insbesondere auf Primarstufe.
«In dem Alter können Kinder eine Sprache nicht analytisch lernen, sondern
müssen sie erleben. Wenn man sie zwei drei Tage pro Woche auf Französisch oder
Englisch unterrichtete, dann würde es funktionieren.» Doch woher die Lehrkräfte
dafür nehmen?
Da ein
solches Modell für die Volksschule wohl Utopie bleibt, ist für Kalberer klar:
Die zweite Fremdsprache auf Primarstufe soll weg. Zugunsten von mehr Deutsch
und nach Möglichkeit intensiverem Fremdsprachenunterricht auf der Oberstufe.
Allerdings
tut sich dann bereits die nächste grosse Frage auf. Darf man in der Schweiz dem
Englisch gegenüber dem Französisch den Vortritt geben? Es ist absehbar, dass
viele Deutschschweizer Kan- tone das Frühenglisch beibehalten und das
Französisch in die Oberstufe verschieben würden. Vertreter der Romandie sehen
dadurch den nationalen Zusammenhalt in Gefahr (siehe Box).
«Ouvrez vos cahiers d’activités à la page trent-quatre», fordert Lehrerin Desirée
Steiner ihre Kaltbrunner Schützlinge auf. Die meisten Schüler blättern zielstrebig
zur Seite 34, einige werfen ver- stohlene Blicke zum Nachbarn.
Nach einem
Dreivierteljahr Französisch zeigen sich bereits gewisse Unterschiede im Niveau
der Fünftklässler. Gerade bei den Schwächeren schlägt sich das teilweise in der
Motivation nieder.
«Als wir mit
dem Französisch anfingen, hatten die Schüler sehr viel Freude, weil alle
schnell Fortschritte machten», sagt Désirée Steiner. «Mittlerweile flacht es
schon etwas ab.»
Das Sprachenlernen auch mal schwierig
und mühsam sein könne, widerspiegle aber letztlich die Realität. «Unsere Aufgabe
ist es, den Kindern zu zeigen, wie man damit umgehen kann.»
Berset droht
mit Machtwort (Box1)
Englisch
sowie eine zweite Landessprache für alle Primarschüler ab dem dritten und
fünften Schuljahr. So sah es ein Beschluss der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren
(EDK) im Jahr 2004 vor. Allerdings ist die Vorgabe nach wie vor nicht in allen
Kantonen umgesetzt. Zudem herrscht ein beträchtlicher sprachlicher
Flickenteppich. In 14 Kantonen ist Englisch die erste Fremdsprache (darunter
St. Gallen), in 12 ist es eine Landessprache. Der zuständige Bundesrat Alain
Berset hat deshalb gedroht, den Unterricht einer zweiten Landessprache in der
Primarschule durchzusetzen. Als Vertreter der Romandie sieht er nichts weniger
als den nationalen Zusammenhalt in Gefahr. Als Grundlage dient ihm das
Sprachengesetz und der Bildungsartikel, den 2006 über 85 Prozent der Stimmenden
angenommen haben. Dieser verpflichtet die Kantone, die Bildungsinhalte der
obligatorischen Schule zu harmonisieren. Ist dies bis 2015 nicht erreicht,
greift der Bund ein. (pb)
Warums Die
Schweden besser können (Box2)
Die Schweden
sind die Nummer 1, was das Beherrschen von Englisch als Fremdsprache angeht.
Sowohl eine Studie der EU-Kommission in 14 europäischen Ländern als auch eine
der sprachschule EF in weltweit 60 Ländern mit fünf Millionen Erwachsenen kam
zu diesem Ergebnis. auf Platz 2 folgt Norwegen, Bronze geht an Holland. Die
Schweiz ist nur Mittelmass. Sprachlehrer Urs Kalberer überrascht diese
Reihenfolge nicht. Hauptgrund ist für ihn das Fernsehen. Anders als im grossen
deutschsprachigen Raum werden Filme und Serien kaum je auf Schwedisch,
Norwegisch oder Holländisch synchronisiert, sondern nur untertitelt. Kinder und
Jugendliche haben so neben dem Schulunterricht Hunderte bis Tausende Stunden
Kontakt mit Englisch. «Das wäre auch bei uns die beste Sprachförderung», ist
Kalbe- rer überzeugt, «und praktisch gratis zu haben». Dass schwedische Schüler
nicht grundsätzlich besser sind, zeigt die Pisastudie. Sowohl im Lesen wie auch
im Rechnen und in den Naturwissenschaften liegt das skandinavische
Land klar
hinter der Schweiz. (pb)
Kommentar
Im Zentrum
muss die pädagogische Frage stehen
Debatten um
Sprache und Identität kennt die Schweiz seit der Gründung des Bundesstaates.
Jüngst geht es um die Frage, ob bereits in der Primarschule zwei Fremdsprachen
unterrichtet werden sollen – wie dies in St. Gallen seit bald sechs Jahren der
Fall ist.
In Sieben
Deutschschweizer Kantonen laufen Vorstösse oder Volksinitiativen mit dem Ziel,
die zweite Fremdsprache wieder aus der Primarschule zu kippen. Infrage gestellt
wird dabei nicht Frühenglisch, sondern Französisch. Vertreter der Romandie,
zuvorderst Bundesrat Alain Berset, sehen deswegen den nationalen Zusammenhalt
in Gefahr.
Wohl und
Wehe der Nation sollen also davon abhängen, ob man in der Primarschule oder
erst auf der Sekundarstufe Französisch lernt? Bei allem Verständnis für die
Symbolwirkung politischer Entscheide: Das ist weit hergeholt. Und lenkt von der
weit wichtigeren Debatte ab.
Im Zentrum
muss die Frage stehen, ob der Unterricht von Fremdsprachen in der heutigen Form
auf der Primarstufe päda- gogisch Sinn macht. Dabei ist nicht nur die Frage
nach der Überforderung der Schüler zu klären. Sondern vor allem, ob sie am Ende
der Schulzeit einen Nutzen davontragen. Hier sind Experten und Politiker
gefordert, gesicherte Antworten zu liefern.
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