Elsbeth Schaffner ist Erstunterzeichnerin des Memorandums "550 gegen 550".
Plädoyer für eine demokratische Konsensfindung über den Auftrag der Volksschule, Elsbeth Schaffner, 30.12.
In den
letzten Monaten ist eine sachlich begründete kritische Diskussion über den Lehrplan 21
in breiten Kreisen erwacht. Die Kritik am Lehrplan 21 ist zahlreich und zum Teil
grundsätzlicher Natur. Wenn es nun darum geht, ob nach der geforderten Überarbeitung
die Kantone den neuen einheitlichen Lehrplan umsetzen, werden grundsätzliche
Korrekturen erwartet. Die offene Diskussion über den Auftrag, den unsere
demokratische Gesellschaft der Volksschule erteilt, muss auch in den Medien weiter
geführt werden. Schulpraktiker und Eltern wollen einen eindeutigen Bildungsauftrag,
der möglichst alle Schulabgänger zu einer qualifizierten Berufsausbildung
befähigt und das Gemeinwohl fördert.
Wer die
bisherige Debatte in den Medien um den Lehrplan 21 verfolgt, vermisst leider noch
zu oft die inhaltlichen Argumente. Kritische Stellungnahmen aus wissenschaftlichen
und pädagogischen Kreisen sowie gut begründete Forderungen von den
Abnehmern der Volksschule wie dem Gewerbe und den Berufs- und Mittelschulen
sind noch kaum bekannt. Im Gegenteil könnte aus den Zeitungsartikeln über
verschiedene Stellungnahmen im Rahmen der Konsultation der Eindruck entstehen,
dass abgesehen von wenigen Kritikpunkten, die vorwiegend den Umfang betreffen,
beinahe einhellige Zustimmung zum Lehrplan 21 herrsche. Die Wiedergabe
der Konsultation tendiert fälschlicherweise dazu, Kritiker einem politisch
rechtsstehenden
oder religiösen Umfeld zuzuordnen. Ich möchte deshalb auf einige inhaltlich
gewichtige Stellungnahmen hinweisen, die jenseits von links und rechts eine
Sachdiskussion verlangen :
Mit dem „Memorandum
550 gegen 550“ fordern Lehrkräfte aller Stufen
„ die
umfassende Überarbeitung des Lehrplanes 21. Sie verurteilen den Entwurf als ein monumentales
Regelwerk der Bildungsbürokratie, der die Schweizer Lehrkräfte zu reinen Vollzugsbeamten
degradiert und die Qualität der Schule massiv beeinträchtigen wird.“
(www.550gegen550.ch)
Bereits im
Mai dieses Jahres veröffentlichte eine Gruppe renommierter
Erziehungswissenschaftler,
Psychologen und Ärzte ein überaus beachtenswertes Memorandum
mit dem Titel „Mehr Bildung - weniger Reformen“. Die Unterzeichner kritisieren,
dass „die
Bildungsverwaltung auf modische Versprechungen setzt und internationalen Organisationen
wie etwa der OECD vertraut statt Erfahrungen der Bildungspraktiker und
vorgängiger
Erprobung von Neuem. Bewährte Eigenheiten des schweizerischen
Bildungswesen
gehen so verloren.“ (Mehr Bildung – weniger Reformen“)
In ihrem
Bericht „Massive Kritik am Lehrplan 21“ schreibt die BaslerZeitung am
20.11.2013:
„Roger von
Wartburg, Mitglied der Geschäftsleitung des Lehrerverbandes Baselland, hat dieses
Memorandum, das schon einige Zeit in der Schublade gelegen ist, entdeckt. Er
ist freudig
überrascht von der Brisanz dieses Papiers und vom Rückhalt, den die Lehrerschaft
damit von namhaften Erziehungswissenschaftlern bekommt. ‚Viele Lehrer haben den
Eindruck, dass Reformen fern von ihrem Alltag beschlossen werden’, sagt von Wartburg, der
selber unterrichtet. Seit Jahren übernehme die Schweiz blindlings Neuerungen
aus dem Ausland. Eine wirkliche Bildungsdebatte habe jedoch gar nie stattgefunden.
‚Aktuell wird der Lehrplan 21 als logische Folge der
Bildungsharmonisierung
verkauft. Doch diese ist inhaltlich gescheitert’, sagt er. (...) Der Psychologe
Allan Guggenbühl befindet sich unter den Unterzeichnern, der Kinderarzt Remo Largo
und auch Kurt M. Füglister, ehemals Dozent an der Pädagogischen Hochschule
Basel. ’Wir haben festgestellt, dass viele Reformen nicht mehr demokratisch ablaufen’,
sagt Füglister. ‚Die erhoffte Bildungsharmonisierung wird eher zu einer Katastrophe
und so auch der Lehrplan 21.’“ (BAZ 20.11.13)
Tatsächlich
findet eine grundsätzliche Abkehr von unserem traditionellen
schweizerischen
Bildungsverständnis statt. So antwortet Matthias Binswanger,
Professor
für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in
Olten und
Privatdozent an der Universität St. Gallen, kürzlich in einem Interview auf die Frage,
ob der Lehrplan
21 nicht mehr auf Lernen und Wissen setze:
„Nein,
tatsächlich nicht. Wirtschaft beispielsweise läuft unter dem Titel ‚Natur,
Mensch, Gesellschaft’.
Dort wird sie im Teilbereich ‚Wirtschaft, Arbeit, Haushalt’ behandelt. Da sollen die
Schüler verantwortungsbewusst Konsumentscheide fällen können. Das scheint mir ein
hochtrabendes Ziel, wenn man die Funktionsweise der Wirtschaft noch gar nicht versteht. Im
Religionsunterricht ist es dasselbe. Ohne die Bibel und damit die eigene
Religion zu
kennen, sollen Kinder ‚Verfremdungen religiöser Traditionen’ aufschlüsseln können.“ (BaslerZeitung,17.12.13)
Angesichts
der fast vollständigen Werteentleerung dieses Lehrplanes ist es nicht verwunderlich,
dass zahlreiche kritische Stellungnahmen vor allem auch aus kirchlichen
Kreisen erwachsen. Weit herum wird jedoch auf die traditionelle
christlichhumanistische Grundlage
der meisten gesetzlichen kantonalen Bildungsaufträge verwiesen.
Eine
inhaltliche Klärung der Standpunkte ist auch durch die mangelnde Transparenz des
elektronischen Konsultationsverfahrens gefährdet. Nur das öffentliche Gespräch über die
Inhalte des Lehrplan 21 wird eine Konsensfindung über den gesellschaftlichen
Auftrag ermöglichen. Dass dieses an der Sache - jenseits von links und
rechts - verlaufen muss, zeigen auch die folgenden Ausschnitte aus zwei konkreten
Stellungnahmen: Die NZZ vom
15.12.2013 berichtet über die Stellungnahme des Schweizerischen
Gewerbeverbandes
(SGV) zum Lehrplan 21. Darin kritisiere der SGV
„die
Qualität der Schweizer Schulen. Und er befürchtet, dass sich die Situation mit
dem Lehrplan 21
nicht etwa zum Besseren wendet. (...) SGV-Direktor Hans-Ulrich Bigler spricht von
einer ‚Tendenz, dass es den Schulabgängern ein Stück weit an Basiskompetenzen
fehlt’. In erster Linie in der Sprache und der Mathematik. Statistisch erhärten
lasse sich dies zwar nicht, doch würden viele Lehrmeister und Berufsverbände solche
Mängel monieren. Diese seien oft der Grund dafür, dass Jugendliche ihre Berufslehre
abbrächen. Rund 90 Prozent der jungen Erwachsenen haben heute einen Berufs-
oder Mittelschulabschluss. Bund, Kantone und Arbeitgeber haben sich das Ziel gesetzt,
diesen Anteil auf 95 Prozent zu erhöhen. Dafür braucht es laut dem Gewerbeverband
aber eine gute Schulbildung. Was er darunter versteht, legt der SGV in seiner
Eingabe zum Lehrplan 21 am Beispiel der Mathematik dar. Auf der Oberstufe ist
eine
derartige Fülle von Kompetenzen geplant, dass pro Position bloss zwei bis drei Lektionen
zur Verfügung stehen. Für den SGV ist dies ein ‚verwirrendes Gemisch von Grundlagen,
Übungen, Anwendungen und mathematischen Spielereien’. Oft fehle der Bezug zur
Lebenswelt der Jugendlichen. Damit werde ihre Unlust verstärkt, sich mit Mathematik,
Informatik und Naturwissenschaften zu beschäftigen. Aus Sicht der Berufsbildung
hingegen seien die Ansprüche an mathematische Kenntnisse und Fertigkeiten
vom Umfang her eher bescheiden, schreibt der SGV. Viel wichtiger sei es, dass die
Schulabgänger diese Grundlagen wirklich beherrschten.“ (NZZ, 15.12.2013)
Der
Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft unter dem SP Bildungsdirektor Urs Wüthrich
lehnt den Lehrplan 21 als Ganzes ab:
„Der
Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft lehnt den Lehrplanentwurf in der vorliegenden
Form ab und weist diesen zur Überarbeitung zurück. Die im Rahmen der kantonalen
Konsultation geäusserten Vorbehalte erachtet der Regierungsrat zum Teil für so
gravierend, dass eine Überarbeitung des Lehrplanentwurfs im Hinblick auf eine Inkraftsetzung
im Kanton Basel-Landschaft unabdingbar ist. Im Ergebnis muss der Lehrplan
deutlich verständlicher und für die Schulpraxis tauglich formuliert, als Erlass
einer Behörde
gestaltet sowie im Umfang gekürzt sein. Nicht korrekt ist im
Lehrplanentwurf,
dass das Erreichen des Mindestanspruchs im dritten Zyklus
gleichzusetzen
sei mit der Befähigung zum Übertritt in die berufliche Grundbildung:
Zahlreiche
Lehrberufe setzen das Beherrschen von Kompetenzstufen voraus, die deutlich über den
Mindestanspruch hinausgehen (...). Die Bedeutung des Wissens als Voraussetzung
von Kompetenz ist hervorzuheben. Dem möglichen Missverständnis, dass Wissen
angesichts der erleichterten Zugänglichkeit zu Informationen obsolet wird, muss entgegen
getreten werden. Verstehen und vernetztes Wissen als Aspekte der Bildung und der
Kompetenzen haben angesichts der Risiken oberflächlicher Informiertheit an Bedeutung
zugenommen.“ (RR des Kantons BL, Konsultation zum Lehrplan 21)
Die Ablehnung
des Lehrplanentwurfs durch den Kanton Basel-Landschaft löst laut „TagesWoche“
vom 19.12.2013 bei der Deutschweizer Erziehungsdirektion (D-EDK) Irritation
aus:
„’Der
Entscheid von Baselland hat uns etwas überrascht’, sagt Nicole Wespi,
Kommunikationsverantwortliche
bei der D-EDK. Denn eigentlich sei es formal nicht vorgesehen,
dass ein Kanton den Entwurf ablehne, sondern eine Stellungnahme abgebe.“
Auf die Frage
der Journalistin, welche Alternativen Baselland zum Lehrplan 21 habe und was es
für Harmos und den gemeinsamen Bildungsraum bedeuten würde, wenn der Lehrplan
nicht umgesetzt würde, antwortet Alberto Schneebeli, der bei der Baselbieter
Bildungsdirektion zuständig für die Bildungsharmonisierung ist: „Am Schluss
entscheide jeder Kanton selber, ob er den Lehrplan umsetze. Sollte der Lehrplan die
Anforderungen aus dem Baselbiet wider Erwarten doch nicht erfüllen, dann könne der
Kanton auch den bestehenden Lehrplan weiterentwickeln.“ (TagesWoche, 19.12.2013)
Es ist nun zu
hoffen, dass die Überarbeitung des Lehrplanentwurfs nicht im stillen Kämmerlein,
unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschieht, sondern, dass ein Weg gefunden
wird, der eine sachlich begründete Konsensfindung ermöglicht. Diese dürfte darin
bestehen, sich auf wenige, aber für die hohe Bildungsqualität und das Gemeinwohl in unserem Land wesentliche Ziele und Inhalte zu einigen.
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