3. November 2013

Lieber Facts als Moral

In einer E-Mail-Debatte diskutieren Franz Jaeger und Jo Lang über den Lehrplan 21.
Franz Jaeger Der Lehrplan 21, der noch bis Ende Jahr in Konsultation ist, möchte den Volksschülern nicht mehr Verstehen und Wissen beibringen, sondern sie mit Kompetenzen ausstatten. Nur: Kompetenzen ohne Wissen und Verstehen ist wie ein Haus ohne Fundament. In einer ökonomisch geprägten Welt immerhin erfreulich ist der inhaltliche Schwerpunkt des Lehrplans im Bereich «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt». Bei einem zweiten Blick darauf wird allerdings klar, dass es irritierenderweise nicht darum geht, die wirtschaftlichen Zusammenhänge und das Funktionieren einer Volkswirtschaft zu vermitteln. So besteht das Lernziel explizit darin, den Schülern ausschliesslich beizubringen, wie sie sich als Konsumenten nachhaltig, reflektiert und politisch stets korrekt zu verhalten haben. Offensichtlich will man eine das Verhalten beeinflussende Ideologisierung durch die Schule. Die Fähigkeit, den ganzheitlichen sozialökonomischen Kontext des Konsumverhaltens zu erkennen, bleibt als Lernziel ausgeblendet. Das überrascht nicht, verfügte doch in der Begleitgruppe, welche die Schwerpunkte vorbereitete, niemand über eine ökonomische Ausbildung oder marktwirtschaftliche Erfahrung. Ohne vernetzenden Einbezug auch der Motive von Unternehmen, Investoren, Arbeitgebern, Banken und öffentlichen Haushalten in den Lehrplan droht jedoch selbst eine vernünftige Konsumentenerziehung bei den Kindern zu einer einseitigen Denkweise zu führen. Die Linke wird es freuen, die Economiesuisse nicht kümmern. Das Nachsehen hat wieder einmal unser Wirtschaftsstandort.
Jo Lang Ihre Skepsis gegenüber dem grassierenden Gerede von «Kompetenzen» teile ich. An unserer Schule, an der ich im 32. Jahr unterrichte, wird das als «Rucksäckli-Theorie» verspottet. Gemeint ist, dass die Schüler nicht länger mit einem inhaltsschweren Rucksack, sondern bloss mit einem leichten Methoden-Rucksäckli ins (Berufs-)Leben entlassen werden. Allerdings trifft diese Kritik auf den Lehrplan 21 nicht zu, auch wenn das Reizwort «Kompetenz» dort etwas gar stark betont wird.
Überhaupt nicht nachvollziehen kann ich Ihre Kritik am Bereich «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt». Beispielsweise finde ich das Unterkapitel «Märkte und Handel verstehen - über Geld nachdenken» gerade wegen seiner Sachlichkeit sehr stark. Ich nehme ja nicht an, dass Sie als Warner vor der Staatsverschuldung die Auseinandersetzung mit der Jugendverschuldung als etwas Linkes betrachten. Was das Kapitel über den Konsum betrifft, geht der Lehrplan ganz einfach davon aus, dass die Volksschüler nicht auf eine Rolle als zukünftige Wirtschaftspolitiker oder Wirtschaftsprofessoren vorzubereiten sind, sondern auf die als mündige Käuferinnen und Käufer. Wenn es hingegen einen Aspekt im Lehrplan 21 gibt, den ich etwas stärker betonen würde, so ist dies die Berufswahlkunde.
Gewiss, die neoliberale Ideologie wirkt heute überall weniger prägend als auch schon - völlig zu Recht. Zu den Erfolgsgeheimnissen der Schweiz gehört eine Volksschule, die ihre Unabhängigkeit gegenüber der Kirche erkämpfte und gegenüber der Wirtschaft bewahrte.
Franz Jaeger Lieber Herr Lang, der Lehrplan 21 will mündige Bürger. Das erreicht man besser mit?faktenbasierter Aufklärung statt mit moralinen Verhaltensanleitungen. Die Vermittlung von ökonomischem Fachwissen in einem gesamtwirtschaftlichen Kontext sowie die Anleitung zu vernetzter Reflexion haben überhaupt nichts mit einer Vorbereitung auf eine Professorenlaufbahn zu tun. Es geht darum, die Volksschüler mit der ökonomischen Welt vertraut zu machen. Denn sie werden ja nicht nur konsumieren, sondern dereinst grösstenteils auch zur produktiven Bevölkerung gehören, sei es als Erwerbstätige, als Kaderleute, als Unternehmerinnen, sei es als selbständige Dienstleister oder als Investoren. Was, bitte schön, soll das mit Neoliberalismus zu tun haben? Und ausserdem: Mein schönstes Vorlesungserlebnis war vor zehn Jahren die Eröffnung der Kinderuni an der Hochschule St. Gallen. Ich widmete damals der Jugendverschuldung zwei ganze Lektionen, allerdings nicht ohne dabei intensiv auch auf die Unheil stiftenden Auswirkungen einer überbordenden Staatsverschuldung einzugehen. Dabei haben die Primarschüler, das zeigten ihre Antworten auf anschliessende Interviewfragen, problemlos begriffen, dass nicht nur sie selbst, sondern auch Unternehmen, Banken und vor allem der Staat nicht ohne Schaden auf Dauer über ihre Verhältnisse leben können. Der Lehrplan 21 hat Verbesserungspotenzial.
Jo Lang Nein, lieber Herr Jaeger, Schulklassen nicht nur mit wirtschaftlichen, sondern auch mit ethischen Wertfragen zu konfrontieren, das ist aus meiner Sicht noch lange keine «moraline Verhaltensanleitung», wie Sie das nennen. Nehmen wir nur einmal das brisante Unterkapitel «Die Schülerinnen und Schüler können globale Herausforderungen der Ernährung von Menschen verstehen»! Ist es wirklich abwegig, die Frage der Bodenzerstörung und der Einkommensbedingungen aufzuwerfen? Auch das Kapitel «Handlungsmöglichkeiten als Beitrag zur weltweiten Ernährungssicherung entwickeln, diskutieren und sich dafür engagieren» ist wichtig. Aus der offenbar kantianisch geprägten Sicht des Lehrplans 21 ist der mündige Citoyen kritisch gegenüber allen Mächten, auch den Märkten, und kann vernetzt denken - nicht nur als globaler Konsument, sondern auch als Weltbürger.
Berechtigt ist die Frage, ob der Lehrplan nicht überfrachtet ist. Sicher geht es nicht, seine Einführung, die für die Lehrpersonen höchst anspruchsvoll ist, mit Sparübungen zu verbinden. Als das Volk 2006 deutlich Ja sagte zum revidierten Bildungsartikel, war ihm klar, dass dieser Fortschritt der Harmonisierung nicht gratis zu haben ist.
Quelle: NZZaS, 3.11.


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