23. November 2013

Lasst endlich einmal die Kinder in Ruhe

Michèle Binswanger, Mamablog-Mit-Gründerin, hatte am Stadt­gespräch im Grand HotelTrois Rois diese Woche zwar nur eine Kritik an der Schule Basel: die Anzahl der Zettel, mit der Lehrpersonen Eltern fluten und gar um Mithilfe bei Schiebedaten nachsuchen.
Nun kann die Zettelflut für Familien tatsächlich ein Problem sein. Von der Weisung über den Gebrauch von Baseballkappen bis zur detaillierten Info über das Vorbereiten des RäbeliechtliUmzugs steht dort alles, was man als Eltern wissen und nicht wissen will. Und nicht selten muss alles fein säuberlich unterschrieben werden. Schliesslich könnte das Kind so dreist sein, die Buchstabenflut nicht an seine Eltern weiterzuleiten.
Nun könnte man dagegenhalten, dass man sich als Elternteil lieber mit der emotionalen und geistigen Verfassung des Nachwuchses beschäftigt als mit der Zettelflut einer bürokratieverliebten Schule. Nützen tut das nichts: Weil dies einige Eltern wollen, fühlen sich Schulen bemüssigt, alle über alles zu informieren – ausgenommen über die tatsächlichen Probleme.
Denn da liegt der Hund begraben: ­Hinter den Kulissen gärt es. Die Lehrer leiden unter den vielen Reformen: ­Harmos, integrativer Unterricht, Frühfranzösisch, Schulleitungen, die Auf­lösung von Kleinklassen und nun noch der Lehrplan 21. Sie sind müde und resigniert, denn jede Reform schwächt sie und lenkt ab vom Kerngeschäft, dem Unterrichten. Zum bürokratischen Aufwand und den ständigen Veränderungen kommen Absprachen mit den vielen Förder- und Therapiefachleuten, die die Klassenzimmer bevölkern. ­Mittlerweile fühlen sich die Lehrer wie auf einer Dauerbaustelle – ständig gilt es, irgendetwas abzureissen, instandzu- setzen oder umzubauen.
Kommt hinzu, dass sich die Bildungsideologen auf den oberen Plätzen zur Aufgabe gemacht haben, die Schüler als perfekte Menschen aus den Schulstuben zu entlassen. Damit bürden sie den Lehrern eine weitere unheilvolle Last und Verantwortung auf. Der junge Mensch soll nicht nur gebildet, sondern auch körperlich fit, umweltbewusst und mit einer hohen Sensibilität bezüglich Gender- und Gewaltfragen ins Erwachsenenleben geschickt werden. Das wäre ja alles gut und recht. Doch an solch hehren Ansprüchen muss die Lehrerschaft fast zwangsläufig scheitern.
Weitere Dauerbaustelle: die Fokussierung auf vermeintliche Schwächen der Kinder. Es kann doch nicht sein, dass rund die Hälfte aller Schüler, allen voran Buben, Förderstunden und/oder Therapien benötigen. Vielmehr muss angenommen werden, dass hier eine Einmischung in die Eigenarten vieler Kinder vorgenommen wird, die an totalitäre Normierungsansprüche grenzt. «Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt», zitierte man früher gerne Goethes Erlkönig. Heute wird zwar eine vermeintliche Abkehr von diesen brachialen Zu­­ständen vorgenommen, die jedoch in die Umstellung auf psychische Einflussnahme mündet. Wohl noch nie in ihrer Geschichte glaubte die Schule, Kinder auch im Privatbereich bis ins Detail steuern zu müssen. All das unter dem Deckmäntelchen, aus ihnen Gutmenschen machen zu wollen.
Kommt hinzu, dass die verunsicherte und von der Bildungspolitik im Stich gelassene Lehrerschaft ihren Schülern nicht mehr offen Paroli bieten kann oder will, sondern Restriktionen über sieben bürokratische Ecken ausübt. Aus den ehemaligen Autoritäten sind Nervenbündel geworden, die sich aus Angst vor rechtlichen Konsequenzen, nicht mehr trauen, bei Verfehlungen der Schüler auf der Stelle, klar und vehement einzugreifen.
Doch nichts macht Kinder einsamer und ohnmächtiger, als von bürokratisierten Regeln umgeben zu sein und keine direkten Grenzen zu spüren. Erziehungsdirektor Christoph Eymann betonte am Stadtgespräch, dass den Schulen zwei Arten von Eltern immer mehr zu schaffen machen: diejenigen, die ihre Kinder vernachlässigen, und die anderen, die sich überall einmischen. Dabei übersah er jedoch geflissentlich, dass die Schulbehörden beim Ein­mischen fröhlich mitmischen. Sie benehmen sich nicht anders als über­betreuende Eltern, die ihre Kinder mit allen Mitteln zum Erfolg trimmen wollen. Die Schüler sollen schlank und rank werden, friedenstiftend argumentieren, umweltbewusst handeln und vieles mehr. Dazu lancieren in den Bildungsverwaltungen öffentlich bestallte und mit viel Geld bezahlte Theoretiker alltagsuntaugliche Projekte, mit denen therapiert, normiert und auf Teufel komm raus gefördert werden soll. So lange, bis den Kindern die Ohren wackeln und sie sich nichts sehnlicher wünschen, als in Ruhe gelassen zu werden und ihr eigenes Ding durchziehen zu können.
Genau dieser Freiraum jedoch wird ihnen nicht mehr gewährt. «Lasst ­endlich einmal die Kinder in Ruhe», fordern daher vermehrt Kinderärzte, Neurologen und Erziehungswissenschaftler. Doch sie stossen auf taube Ohren. Zu sehr sind Erziehungsdirektoren daran interessiert, als Pioniere zu gelten und auf dem politischen Parkett als dynamische Führungspersonen zu glänzen – und sei es auf Kosten der Basis und der Kinder.
Und übrigens: Mithilfe des Zettels an die Eltern schaffte es auch die Lehrerin des Kindes von Binswanger, ihr ­Verschiebedatum zu finden.

Quelle: Basler Zeitung, 22.11. Fördern bis die Ohren wackeln, von Franziska Laur

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