28. April 2013

Gedanken zur Chancengleichheit

Michael Furger stellt fest, dass die Schweiz ein Problem mit den Eliten hat. Das wirkt sich aus bis ins Bildungssystem. Der Begriff "Chancengleichheit" sei "wie ein buntes Abziehbild auf jedem Reformpaket".

Die meisten von uns hatten nie die Chance, ins Kader des FC Bayern München berufen zu werden. Der Kosovo-Schweizer Xherdan Shaqiri hatte diese Chance. Ein Fall von krasser Chancenungleichheit. Man sollte etwas dagegen unternehmen. Am besten mit Fussballkursen in der Schule. Denn warum sollte nicht jeder die gleiche Chance haben, den Beruf des Fussballprofis zu ergreifen?
Im Ernst: Wenn Politiker und Beamte über Bildungsfragen brüten, folgen sie dieser Logik. Man lässt sich von der Frage leiten, wie man möglichst vielen zu einer Laufbahn verhelfen kann, für die sich nur wenige eignen. In der Sprache der Politik heisst das Chancengleichheit. Die Pisa-Studie hat einst ergeben, dass die Schweizer Volksschule soziale Unterschiede nicht genügend ausgleichen kann. Seitdem klebt der Begriff Chancengleichheit wie ein buntes Abziehbild auf jedem Reformpaket. Im Kanton Zürich etwa schicken einige Eltern ihre Kinder in private Vorbereitungskurse für die Gymi-Prüfung. Was die Kurse effektiv bringen, weiss niemand. Dennoch wollte die Regierung die Kurse jüngst für alle gratis anbieten, aus Gründen der Chancengleichheit. Weil das Parlament Nein sagte, wollen Linke die Prüfung nun ganz abschaffen. Andere Kreise fordern seit Jahren, den Zugang zu den Gymnasien und damit auch zu den Universitäten zu lockern.
Wenn wir ehrlich sind, geht es dabei um etwas anderes: um die diffuse Abneigung gegen die sogenannte Elite, gegen jene, die es - vermeintlich - weiter bringen. Man könnte annehmen, die Schweiz mit ihrem exzellenten Bildungswesen, ihrer weltweit führenden Innovationskraft und ihrem Reichtum habe ein unverkrampftes Verhältnis zum Begriff «Elite». Leider nicht. Er wird grossräumig umfahren. Es ist nicht lange her, da sass der damalige FDP-Präsident Fulvio Pelli an der ETH Zürich auf einem Podium über Eliteförderung und sagte: «Ich bin für die Eliteförderung, aber ohne <Elite> und ohne <Förderung>.» Die Universität St. Gallen, eine der international besten Wirtschaftsschulen, möchte lieber etwas anderes sein als eine Elite-Uni. Eine Erhebung ergab zwar, dass ihre Studenten aus privilegierten Elternhäusern stammen. Die Absolventen sitzen in Chefbüros grosser Firmen und tauschen sich über ein exklusives Netzwerk aus. Man sei aber nicht elitär, schreibt die Schule im Erhebungsbericht, sondern «gutbürgerlich». Ein Begriff, der eher an einen Landgasthof erinnert als an eine Universität. Im Tiefstapeln sind wir Schweizer wirklich gross.
Hören wir auf damit. Die Elite ist gut, es braucht sie, nur schon deshalb, weil sie einer Gesellschaft Triebkraft und dem Individuum den Ehrgeiz verleiht, den es braucht, um erfolgreich zu sein. Denn, und das ist entscheidend, die Schweizer Elite ist eine Leistungselite. Der ererbte Status zählt hier wenig, Anstrengung viel. Daher ist unsere Elite nicht exklusiv. Jeder kann es schaffen, ganz ohne Chancengleichheitsprogramme. Der Bundespräsident stammt aus einer Bauernfamilie und absolvierte eine KV-Lehre. Der Rektor der ETH Zürich ist der Sohn eines aus Italien eingewanderten Rangierarbeiters. Vermutlich hat er keine privaten Gymi-Prüfungs-Kurse besucht - und es trotzdem geschafft.
Wieso? Weil die Leistung zählte und weil das Schweizer Bildungssystem - allen Bedenkenträgern zum Trotz - schon heute so viel Chancengleichheit garantiert wie kaum ein anderes. Erstens ist exzellente Bildung hier für alle entweder gratis oder billig. Teure Privatschulen gibt es zwar, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie besser ausbilden als die staatlichen Schulen. Das ist in einigen Nachbarländern anders. Zweitens erlaubt die Durchlässigkeit jeden noch so queren Karriereweg. Auch wer eine Lehre absolviert hat, kann über die Berufsmatura und die Fachhochschule zu einem Uni-Abschluss kommen. Drittens gibt es immer wieder eine neue Chance. Ob man falsch einspurt oder spät zündet, man kann dennoch Wirtschaftsführer oder Biochemiker werden. Wer eine Bildungschance will, der bekommt sie. Das gilt für alle und zu jedem Zeitpunkt des Lebens. Das Theater um die Gymi-Prüfung ist angesichts dieser Möglichkeiten völlig unverständlich.
Gewiss, die Bildungsforschung lehrt uns, dass Kinder mit gebildeten Eltern häufiger höhere Schulen besuchen als solche aus bildungsfernen Haushalten. Aber heisst das auch, dass begabte Kinder aus tiefen Schichten vom System benachteiligt werden? Das System unterscheidet nicht nach Herkunft. Dass einige Kinder von ihren Eltern - und allenfalls von Lehrkräften - besser gefördert werden als andere, ist zwar erwiesen, ist aber kein Konstruktionsfehler des Bildungssystems. Es ist daher auch kein Grund, die Triebkraft eines auf Leistung ausgerichteten Bildungswesens zu gefährden.
Quelle: NZZaS, 28.4. von Michael Furger

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen