25. März 2013

Neue wissenschaftliche Befunde gegen Integration

Während die Forschung neue Daten vorlegt, die den Vorteil separierender Schulmodelle nachweisen, läuft die Schweizer Schulpolitik genau in die entgegengesetzte Richtung. Dazu kommt, dass die Integrative Förderung unter den Sparprogrammen leidet. In diesem Zusammenhang von einem Erfolg zu sprechen sei Augenwischerei.

Wer lernt besser? Hochbegabte Schüler, die in Klassen mit ihresgleichen 
unterrichtet werden, oder hochbegabte Schüler, die in Regelklassen sitzen? Von 2008 bis 2012 beobachtete Wolfgang Schneider, Professor für Psychologie an der Universität Würzburg, mit Forschungskollegen mehr als 1000 Schüler aus acht Gymnasien in den deutschen Bundesländern Bayern und Baden-Württemberg. Vor zwei Wochen hat er eindeutige Resultate präsentiert: Ob Deutsch, Mathematik, Englisch oder Biologie: In all diesen Fächern schneiden Schüler aus Hochbegabtenklassen besser ab als hochbegabte Schüler in Regelklassen. Sie haben generell mehr Freude am Denken. Kurzum: Spezielle Klassen erweisen sich für Hochbegabte als Segen. 
Für Schneider liefern die Studienergebnisse auf jeden Fall ein Argument, die 
Klassen gemäss Begabungen und Fähigkeiten einzuteilen. «Sie laufen dem derzeitigen Trend zur Integration von Schülern mit ganz unterschiedlichen Vor-aussetzungen entgegen», sagt er. Gleich wie in der Schweiz lautet die Losung in Deutschland, Schüler aller Niveaus in Regelklassen einzugliedern. Dabei seien in Deutschland die Leistungsunterschiede sogar an Gymnasien gross. So gross, dass die Lehrer den unterschiedlichen Bedürfnissen in einer Klasse mit noch so differenzierter Unterrichtsgestaltung kaum noch gerecht werden könnten. 
Die Bildung homogener Klassen, sagt Schneider, könne auch auf der Grund-stufe – das entspricht der Primarschule in der Schweiz – sinnvoll sein. Zwar 
spreche vieles für die Integration lernschwacher Kinder in Regelklassen. Aber 
wenn – wie in Deutschland – die Lehrer zu wenig Unterstützung erhielten und 
das Leistungsgefälle zu gross werde, entstünden Probleme. Zudem stelle sich 
die Frage, ob sich Kinder mit Lernschwierigkeiten wirklich wohl fühlten, wenn sie von Gleichaltrigen umgeben seien, die alles besser könnten. Man könnte es auch so sagen: Es mag ja nett sein, wenn ein Regionalfussballer beim FC Barcelona mitspielen darf. Doch vermutlich wird er nie einen Ball sehen – und ganz sicher nie dribbeln können wie Messi. Stattdessen wird er stets mit der frustrierenden Tatsache konfrontiert, dass der Rest der Gruppe massiv ge-schickter und erfolgreich kickt.  
Zu einem ähnlichen Befund wie Schneider kommt eine Studie aus den USA, die Courtney A. Collins und Li Gan vom renommierten National bureau of economic research im Februar veröffentlicht haben («Does sorting students improve scores?»). Sie untersuchten die Resultate von 9325 Kindern im Alter von acht bis neun Jahren in 135 verschiedenen Schulen in der Stadt Dallas im Bundesstaat Texas. Das Resultat: Bildet man Klassen mit geringem Leistungsgefälle, erbringen die Schüler im Rechnen und im Lesen signifikant bessere Ergebnisse, als wenn sie in Klassen mit grossen Leistungsunter-schieden sitzen. Von der Separation profitieren gemäss den Studienautoren 
nicht nur die starken Schüler, sondern auch jene mit Schwierigkeiten, weil die Lehrer das Lerntempo besser den Ansprüchen der Klasse anpassen können. «Lehrer von schwächeren Schülern legen den Fokus vielleicht auf die Verbesse-rung von Basisfähigkeiten, während Lehrer von starken Schülern herausforderndes Unterrichtsmaterial präsentieren», schreiben die Autoren. Das Fazit der beiden Studien lautet also: Unter gleich Guten lernt es sich 
besser, und die Bildung von homogenen Klassen macht Sinn. Was bedeutet das für die Schweiz? 
Hierzulande läuft der Trend genau in die umgekehrte Richtung. Das päda-gogische Gebot der Stunde lautet Integrative Förderung (IF), also die Inte-gration von Kindern mit unterschiedlichster Begabung in die Regelklasse, sei es auf der Primar- oder der Oberstufe. Das bedeutet: Schüler, die etwa Lern-schwierigkeiten haben, zappelig oder sonst verhaltensauffällig sind, besuchen den «normalen» Unterricht. In einzelnen Lektionen erhalten sie Unterstützung 
von Heilpädagogen und anderen Fachpersonen. Die Basis für IF bildet das «Sonderpädagogik-Konkordat», dem bereits 10 von 18 Deutschschweizer Kan-tonen, darunter Obwalden, Luzern und Uri, beigetreten sind. Integrative Lösungen, legt das Konkordat als Grundsatz fest, seien separierenden Lösun-gen vorzuziehen. Oder anders formuliert. Niemand soll aufgrund seiner Lern-schwierigkeiten zum Hilfsschüler abgestempelt werden. Damit sind soge-nannte Kleinklassen und Werkschulen, in denen früher lernschwache Kinder das Abc und Einmaleins lernten, zu pädagogischen Auslaufmodellen geworden. Ihre Zahl sinkt, im Kanton Luzern müssten sie seit diesem Schuljahr sogar von Gesetzes wegen gänzlich abgeschafft sein. Acht Gemeinden erhielten vom Kanton jedoch eine Sonderbewilligung zur Weiterführung der Kleinklassen auf der Sekundarstufe. Unter diesen Gemeinden findet sich Zell, wo Franz Gass-mann seit 35 Jahren als Werkschullehrer wirkt. Die neuen Studienergebnisse aus Deutschland und den USA erstaunen den 62-jährigen erfahrenen Päda-gogen nicht. Die Zustände bei der Integrierten Förderung kritisiert er scharf. Im Kanton Luzern verfüge die Hälfte der Lehrer, die IF-Schüler betreuten, nicht über die entsprechende Ausbildung. Für IF-Schüler stünden zudem viel zu wenig Förderlektionen zur Verfügung. Es mangle an geeignetem Lernmaterial und Räumen, die Klassen seien viel zu gross. Er kenne praktisch keine Lehrer, die IF begrüssen. Für Gassmann ist klar: Die Bildungspolitiker haben das Sy-stem über die Köpfe der Lehrer hinweg installiert und betreiben Augenwische-rei, wenn sie dessen Vorteile preisen. Bei richtigen Rahmenbedingungen sei IF zwar machbar. Aber das werde viel mehr kosten. Dass Kleinklassen aufge-hoben werden sollen, kann Gassmann nicht nachvollziehen. «In einer Klein-klasse mit vielleicht rund zehn Schülern kann ein Lehrer viel besser auf die Stärken und Schwächen des Einzelnen eingehen und sie deutlich gezielter för-dern als ein Lehrer in einer IF-Klasse mit 20 Schülern», sagt er.  
Mit ein Grund zur Abschaffung der Kleinklassen ist die Herstellung der soge-nannten «Chancengerechtigkeit». In der jüngsten Ausgabe von «Bildung 
Schweiz», der Zeitschrift des Dachverbandes der Schweizer Lehrer (LCH), schreibt Urs Haeberlin, emeritierter Professor für Heilpädagogik an der Universität Freiburg: «Die Kleinklassen zementieren für einige Betroffene Chancenungerechtigkeiten.» Dies – und kaum etwas anderes – könne die Auf-lösung der Kleinklassen rechtfertigen. Vor allem Kinder aus Immigranten-familien hätten mit dem Etikett «Abgänger aus einer Kleinklasse» reduzierte Chancen auf dem Lehrstellenmarkt. Gassmann hat gegenteilige Erfahrungen gemacht. «In den letzten sechs Jahren haben alle meine Schulabgänger eine Lehrstelle, manchmal mit Umwegen, gefunden.»  
Ein positives Bild über die IF malen hingegen die Behörden. Zum Beispiel die 
Stadt Zürich. Mit IF seien die Lehrpersonen zufriedener als mit dem System der Kleinklassen, findet der Stadtrat. Er stützt sich gemäss dem «Tages-Anzeiger» auf eine noch unveröffentlichte Evaluation des Beratungsbüros Spectrum 3. Die Befürchtungen, Lehrpersonen würden unter mehr Stress lei-den, scheinen sich demnach nicht zu bewahrheiten. Oder doch? In Zürcher Lehrerzimmern schütteln Pädagogen bloss den Kopf über die Evaluation. «Hätten wir genügend Geld, könnten wir eine Studie anfertigen lassen, die das Gegenteil belegt», sagt Urs Loosli, Präsident der Sekundarlehrkräfte des Kantons Zürich. Es mache schlicht und einfach keinen Sinn, sämtliche Schüler in Regelklassen zu integrieren. «Das ist eine Zumutung», sagt Loosli. Es dürfe 
nicht sein, dass wegen des grossen Aufwands für IF-Schüler «normale» Schüler zu kurz kämen. Auch Eltern zeigten sich zum Teil besorgt über die Entwicklung mit IF – und würden ihre Kinder in Privatschulen. Die Auflösung der Klein-klassen sei ein Fehler, ergänzt er. 
Unterschiedliche Rückmeldungen von der Basis zum Thema IF erhält Anna-marie Bürkli, Präsidentin des Luzerner Lehrervereins. Es hange sehr von der Anzahl Förderlektionen ab, welche IF-Kinder in einer Klasse erhielten. «Bei dem heutigen Sparprogramm werden oft die nötigen Ressourcen gestrichen, und die individuelle Förderung des Kindes findet nur noch sehr minimal statt», sagt Bürkli. Fest steht: Den Lehrern brennt das Thema IF auf den Nägeln. Man begegnet selten Pädagogen, welche dieses Konzept bejubeln. «Es herrscht generell ein gewisses Unbehagen. Das ist die grösste pädagogische Baustelle in unserem Kanton», sagt Koni Schuler, Präsident des Lehrervereins Schwyz. 
Quelle: Neue Luzerner Zeitung, 23.3. von Kari Kälin

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