17. April 2012

Pädagogisches Nullsummenspiel

In der Schweiz sind Migrantenkinder an Gymnasien deutlich untervertreten. Das Projekt „Chagall“ des privaten Gymnasiums Unterstrass in Zürich setzt an diesem Punkt an und bietet für begabte und motivierte Jugendliche mit Migrationshintergrund eine Intensiv-Prüfungsvorbereitung an. Das Gymnasium Unterstrass liess „Chagall“ durch das Institut für Bildungsevaluation der Universität Zürich begutachten und wird in der Folge vom Kanton Zürich mit jährlich ca. Fr. 100‘000 unterstützt. Das ist die Ausgangslage für meine Überlegungen zu diesem Projekt, das exemplarisch aufzeigt, wie in der Bildungslandschaft Schweiz den wirklichen Themen aus dem Weg gegangen wird.
Just in diesem Schuljahr wurde in der Stadt Zürich eine Regelung eingeführt, die die Schulen verpflichtet, unentgeltliche Vorbereitungskurse für die Gymnasiumprüfung im Rahmen von zwei Wochenlektionen anzubieten. Der Kanton zieht nach und hat ein entsprechendes Angebot für kommendes Schuljahr programmiert. Die Anziehungskraft des Gymnasiums ist so stark, dass sehr gute Schulleistungen nicht genügen, um sich dort einen der beschränkten Plätze zu sichern. Das System beharrt auf einer Aufnahmeprüfung, welche den Kandidaten immer mehr Prüfungsvorbereitung aufzwingt. Neben den unzähligen privaten Anbietern und den neugeschaffenen Lektionen an der Sekundarschule buhlt nun auch das Gymnasium Unterstrass – aus vordergründig ehrbaren Motiven – um ein Stück vom grossen Kuchen.
In beispielhafter Art wird das Projekt nun in verschiedenen Schritten veredelt. Erster, wichtiger Schritt: Das Institut für Bildungsevaluation verleiht ihm in einem Bericht die Aura der wissenschaftlichen Unangreifbarkeit. Der Bericht überprüft die Wirksamkeit von „Chagall“ und stellt fest, dass es mit den Erfolgsquoten (knapp 50% schafften die Gymi-Prüfung) „erfolgreich“ sei. Angesichts des enormen Aufwands der Kandidaten (zwei volle Halbtage pro Woche plus Hausaufgaben – nebst dem Normalprogramm einer Sek A) ist dies nicht erstaunlich. Nicht gestellt wird die Frage, ob „Chagall“ (Chancengerechtigkeit durch Arbeit an der Lernlaufbahn) auch nur ansatzweise zu Chancengerechtigkeit führt. Ebenfalls ausgeklammert wird die in diesem Zusammenhang relevante Frage, ob es Alternativen zu den bestehenden Selektionsverfahren gibt. Im Gegenteil: Die Aufnahmeprüfungen und ihre unerwünschten Begleiterscheinungen in Form von fragwürdigem Prüfungsdrill werden als unantastbar gestützt und legitimiert. 
In einem zweiten Schritt wird nun nach staatlicher Unterstützung gerufen. Mit dem Freibrief des Instituts für Bildungsevaluation in Händen, verbunden mit der politisch wirksamen Zielgruppe der Migrantenkinder, kommt die Bildungsdirektion dem Wunsch der renommierten Privatschule nach. Dabei muss man sich die Relationen vor Augen halten: Der Kanton steckt pro Jahr ca. 100’000 Franken in ein Projekt, das durchschnittlich knapp sechs Migrantenkinder durch die Gymi-Aufnahmeprüfung bringt. 
Die Medien runden schliesslich in einem dritten Schritt die zutiefst fragwürdige Praxis ab. In wohlwollenden Artikeln verbreiten sie das gekonnte Zusammenspiel der beteiligten Akteure und regen Nachahmung an.  Dabei verschärft die Testschmiede den Wettbewerb um die begehrten Plätze zusätzlich – das Hamsterrad dreht sich nun einfach noch ein wenig schneller. Ob da bildungsferne Migrantenkinder letztendlich mithalten können, ist eine andere Frage. 
Unter dem Schlussstrich ergibt sich ein pädagogisches Nullsummenspiel. Das Problem der Selektion an der Stufe zum Gymnasium bleibt ungelöst, ebenso wie die Untervertretung von sozial benachteiligten Schichten (es gibt übrigens davon auch solche mit Schweizer Hintergrund). Neben vielen Gewinnern dürfte  jedoch die Zielgruppe der Migrantenkinder langfristig  leer ausgehen. Denn ihr Problem liegt tiefer, als dass man es mit simplen Vorbereitungskursen lösen könnte.

Haben eine reale Chance auf eine akademische Karriere: Samira Cabdulle aus Somalia und Kevin Macias aus Südamerika. (Bild: Reto Oeschger)
Bessere Integration von Migranten durch Chagall? Bild: Reto Oeschger
Ein möglicher Türöffner für das Gymnasium, Tages Anzeiger, 14.4. von Monica Müller
Anschubhilfen auf steinigen Bildungswegen, NZZ, 14.4. von Urs Bühler
Dank Förderung ins Gymnasium, Regionaljournal DRS, 13.4.
Migranten-Kinder im Gymi erfolgreich, 20 Minuten, 12.4. von Deborah Sutter

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