9. November 2016

Millionenmarkt Klassenzimmer

So macht Lernen Spass: Im Fach Ernährung «kennen und berechnen die Schüler der Mittelstufe die Mengen an Kartoffeln, die es zur Chips-Herstellung braucht, und die Preise von Rohstoff und Fertigprodukt». Entwickelt wurde das Lehrmittel in Zusammenarbeit mit der Zweifel Pomy-Chips AG. Im Fach Hauswirtschaft erfahren sie, «wie sich die verschiedenen Hilfsgeräte der Küche im Laufe der Zeit entwickelt und verbessert haben» – gesponsert vom Küchengerätehersteller V Zug.
Gesponsertes Unterrichtsmaterial breitet sich in der Schule aus, Bild: Goran Basic
Vom Pausenapfel zum Apple-Tablet, NZZ, 9.11. von Erich Aschwanden und Daniel Gerny

Auch die Kindergärtler müssen sich nicht langweilen. Sie trainieren mit dem «Würstchen-Memory» ihre Feinmotorik, mit Unterstützung des Schweizer Fleisch-Fachverbandes. Ebenfalls mit von der Partie ist die Firma Victorinox: «Die Schüler lernen in diesen Unterrichtseinheiten auch Funktionen und den richtigen Umgang mit einem Sackmesser kennen», heisst es zu Modul «Schnitzen Sek I und Mittelstufe».

Diese Beispiele sind nicht fiktiv, sondern einige der über 180 Unterrichtseinheiten, die Lehrerinnen und Lehrer aller Stufen von der Seite www.kiknet.ch herunterladen können. Die Eigenwerbung «Wo Wirtschaft und Schule sich treffen» ist nicht übertrieben. Es sind keineswegs nur Privatfirmen, die mit ihren Produkten und Dienstleistungen in die Klassenzimmer drängen. Das Aussendepartement ist mit dem Thema Menschenrecht vertreten, während das Staatssekretariat für Migration einen Postenlauf beisteuert. Auch die FDP bietet über dieses Portal Unterrichtsmaterial an.

Die Nachfrage nach den fixfertigen Schullektionen ist riesig: Jeden Monat verzeichnet kiknet.ch, der grösste Schweizer Anbieter, rund 35 000 Downloads von Unterrichtsmodulen. Das 2002 gegründete Unternehmen beschäftigt inzwischen sechs festangestellte Mitarbeiter und 30 bis 40 Freelancer, die auf Basis der von den 170 Partnern angelieferten Unterlagen stufengerechte und pfannenfertige Lektionen produzieren. Der Markt entwickelt sich rasant. Die Zahl der Downloads habe sich in den letzten acht Jahren rund verdoppelt, erklärt Geschäftsführer Meinrad Vieli.

Beim Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz befasst sich Jürg Brühlmann eingehend mit dem Thema Sponsoring. «Ich schätze die Grösse dieses Marktes für den ganzen Bildungsbereich auf mehrere 100 Millionen Franken», sagt der Leiter der Pädagogischen Fachstelle. Eingerechnet sind neben Sachleistungen auch Lohnkosten der Mitarbeiter von NGO, Firmen wie ABB oder Kantonalbanken, die für Schulprojekte abgestellt werden. In finanzieller Hinsicht wichtige Player sind Förderstiftungen wie die Jacobs Foundation oder Mercator.

Brühlmann spricht von einem «schleichenden Prozess», der in der Öffentlichkeit nur wenig wahrgenommen werde und für den es verschiedene Ursachen gebe. Da ist zum einen die Digitalisierung und dies gleich in doppelter Hinsicht: So ist die Anschaffung von technischen Geräten für die Schulen kostspielig. Bekannt ist, dass Hersteller wie Apple oder Samsung Schulen mit Computern oder Tablets versorgen. Gleichzeitig erleichtern Internet und neue Medien nicht nur die Herstellung von Unterrichtsmitteln, sondern auch den niederschwelligen Bezug durch die Lehrpersonen.

Auch bildungspolitische Entwicklungen beeinflussen das Angebot. Der früher durch kantonale Monopole geschützte Markt ist aufgebrochen. Lehrmittel können dank dem Lehrplan 21 in der gesamten Deutschschweiz angeboten werden. Umgekehrt schränke der Lehrplan 21 die Gestaltungsfreiheit beim Herstellen von Unterrichtsmaterial aber auch ein, betont Meinrad Vieli. Er rechnet vor diesem Hintergrund nicht damit, dass die Zahl der Sponsoren in nächster Zeit stark steigt.

Weshalb aber weichen Schulen und Lehrpersonen immer häufiger auf gesponsertes Material aus? Brühlmann und Vieli sehen übereinstimmend einen direkten Zusammenhang zum Abbau im Bildungsbereich in den letzten fünf bis acht Jahren. «Wenn die staatlichen Budgets immer knapper werden, suchen die Schulen ganz automatisch nach anderen Finanzierungsquellen», erklärt Brühlmann. Und Vieli stellt im Gespräch mit Lehrpersonen fest, dass immer weniger Mittel für Lehrmaterial zur Verfügung stehe.

Doch das Engagement von Privatwirtschaft und Institutionen ist eine stete Gratwanderung: Niemand will, dass seine Kinder im Klassenzimmer mit Werbung berieselt oder ideologisch bearbeitet werden. Anbieter wie kiknet.ch sind deshalb vorsichtiger geworden, beispielsweise bei Produkteabbildungen. Die Sponsoren werden nur für die Lehrerschaft transparent gemacht, während Schülerinnen und Schüler weder Firmennamen noch Logos zu Gesicht bekommen. Aktiv sind auch die Kantone – mit Richtlinien setzt etwa Basel-Stadt dem Sponsoring Grenzen.

Manche Botschaften werden indessen subtiler vermittelt, so dass die versteckte Werbung für die Kinder kaum erkennbar ist. Klare und transparente Verhältnisse strebt deshalb der Lehrerverband an. In einer am Dienstag präsentierten Charta (siehe Zusatztext) verpflichten sich Firmen wie Microsoft, Swisscom, Samsung oder die Post beispielsweise darauf, auf Product Placement im Schulzimmer oder die Abgabe von Vergünstigungsbons zu verzichten. Nicht verzichten müssen Schülerinnen und Schüler auf den wohl ältesten Sponsoring-Artikel: den Pausenapfel.


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